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Mit dem Pflege-TÜV wandert die Zeit vom Menschen zum Papier

30.06.2014, 12:17
Der Pflege-TÜV hat einem Kritikpunkt nichts geändert: Noch immer fehlen Pflegekräfte und mehr Zuwendung. Foto: Frank Rumpenhorst
Der Pflege-TÜV hat einem Kritikpunkt nichts geändert: Noch immer fehlen Pflegekräfte und mehr Zuwendung. Foto: Frank Rumpenhorst dpa

Neu-Isenburg - Heime und Pflegedienste bekommen Noten wie in der Schule: Seit fünf Jahren bewertet der Pflege-TÜV die Qualität. Doch Betroffene sagen: Ausgerechnet das Notensystem erschwert gute Pflege.

Zu viel Papierkram, zu wenig Mensch - so lautet die Kritik am Pflege-TÜV zu dessen fünftem Geburtstag. Seit dem 1. Juli 2009 bilden die Ergebnisse offizieller Prüfungen von Pflegeheimen und -dienste die Basis für
Noten. Für die Senioren und ihre Familien bieten die Bewertungen aber oft nicht viel Hilfe - wie man am Beispiel der fast 94 Jahre alten Else Wenzlaff sehen kann, die zu Pionieren des Pflege-TÜV zählt.


Wenzlaffs Urteil damals wie heute: Der Pflege-TÜV ist im Prinzip gut, aber in seiner konkreten Ausformung unzureichend. Sie gab schon Auskunft, als ihr Heim "Am Erlenbach" in Neu-Isenburg bei Offenbach medienwirksam im Sommer 2009 erstmals Besuch von Prüfern des Medizinischen Dienstes des Krankenkassen (MDK) bekam. Am großen Aber hat sich aus Wenzlaffs Sicht wenig geändert: Mehr Pflegekräfte und mehr Zuwendung bräuchte es, da hat der Pflege-TÜV nichts verbessert.

Mehr Personal hatte sie sich schon 2009 gewünscht, 2014 fügt die inzwischen im Rollstuhl sitzende Seniorin hinzu: "Ein bisschen mehr Zeit wäre schön." Doch Zeit ist knapp. Pfleger verbringen Stunden mit der Dokumentation ihrer Arbeit - präzise Unterlagen bringen gute Noten.

In einer Sieben-Stunden-Schicht sitze das Personal oft zwei Stunden über den Papieren, "während draußen die Klingeln leuchten", sagt das Vorstandsmitglied des Angehörigen-Vereins "
wir pflegen", Heinz Heck. "Das ist purer Stress." Zeit und Leistung seien leichter zu prüfen als die Zuwendung und Pflege für den Menschen, klagt Frank Kadereit, Geschäftsführer der "Mission Leben - Im Alter GmbH". Der zur Diakonie gehörende Träger hat in Hessen und Rheinland-Pfalz 17 Heime, darunter das in Neu-Isenburg.


Kadereit ist überzeugt, dass "das Bedürfnis der Menschen, wie mit ihnen umgegangen wird, offenbar ein anderes ist als der Pflege-TÜV vorsieht". Der Geschäftsführer hält das System für "ein Beruhigungspflaster für Gesellschaft und Politik".

Dass gute Noten nicht immer gute Pflege bedeuten, räumt der für die bundesweite Veröffentlichung der Pflegenoten zuständige Verband der Ersatzkassen (VdeK) in Berlin ein. "Der Aushang des Speiseplans konnte schlechte Medikamentenversorgung wettmachen", sagt eine Sprecherin. Im Extremfall habe eine schöne Haustür sogar das Vergessen eines Bewohners auf der Toilette wettmachen können. Solche Schwächen des Systems sollen Änderungen beheben, die seit Anfang 2014 gelten. Ob der neue Kriterienkatalog das schafft, ist aber offen.

Derzeit werden mehr als 11 000 ambulante und stationäre Einrichtungen regelmäßig unter die Lupe genommen. Nach dem alten System liegen die Durchschnittsnoten aller Bundesländer im sehr guten Bereich. In der stationären Pflege schwankt die Bandbreite zwischen 1,0 für Baden-Württemberg und 1,4 für Bremen, Rheinland-Pfalz sowie Thüringen (Stand: Juni 2014). Unterschiede im Zehntelbereich bieten aber nach Ansicht von Experten keine Hilfe bei der Entscheidung für eine Einrichtung.

In Neu-Isenburg fragen nur wenige Interessenten nach der Bewertung im Pflege-TÜV, hat Heim- und Pflegedienstleiterin Margit Geisler beobachtet: "Der erste persönliche Eindruck zählt. Die Atmosphäre, die Freundlichkeit der Mitarbeiter, die Kompetenz der Antworten, Gespräche mit den Bewohnern."

Danach richtete sich auch Else Wenzlaff, als sie vor acht Jahren noch ohne Pflege-TÜV auf die Suche nach einem Heim ging. Ihr Wunsch nach mehr Zeit wird wohl unerfüllt bleiben: Weil die Zahl der Menschen in den aufwendigen Pflegestufen zwei und drei nach Aussage von Frank Kadereit fast konstant bleibt, gibt es nicht mehr Personal. Und die, die da sind, müssten eine steigende Zahl von Menschen in Stufe eins mitbetreuen - Arbeitsverdichtung ist die Folge.