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Leipziger Buchpreis Abgründig: Kronauers "Der Scheik von Aachen"

Vom Kommen und Vergehen der Liebe. Brigitte Kronauer lotet in ihrem neuen Roman existentielle Grunderfahrungen aus.

Von Johannes von der Gathen, dpa 14.03.2017, 23:01

Berlin (dpa) - Was wären wir ohne die Geschichten, die wir uns und unseren Mitmenschen, den Ehepartnern, Freunden, Kindern, Tanten und Onkeln täglich neu servieren? Im Erzählen kommen wir, gerade nach einem erlittenen Verlust, zu uns selbst, finden den Halt, der in einer sich rasend wandelnden Welt sonst kaum noch zu haben ist.

Diese Einsicht ist die Grundlage von Brigitte Kronauers neuem Roman "Der Scheik von Aachen". Nach ihrem großen Gegenwarts-Panorama "Gewäsch und Gewimmel" (2013) erkundet die seit vielen Jahren in Hamburg lebende Büchnerpreisträgerin erneut die Abgründe von Liebe und Tod. Die 1940 geborene Autorin legt aber kein betuliches Alterswerk vor, sondern lotet mit Emphase und großer sprachlicher Kraft existientielle Erfahrungen aus.

Das Göttliche steht wieder ganz nah neben dem Profanen, der mythische Sängerin Orpheus gleich neben Schlagerstar Udo Jürgens, und unsere schnelle Smartphone-Gegenwart wird gespiegelt in romantischen Motiven sehnsuchtsvoller Ferne. Der eigentümliche Romantitel spielt auf Wilhelm Hauffs Märchensammlung "Der Scheik von Alessandria und seine Sklaven" (1826) an. Und Aachen als Grenzstadt markiert auch den Übergang zwischen verschiedenen Sphären.

Kronauers Protagonistin Anita Jannemann ist allerdings keine weltferne Träumerin, sondern eine interdisziplinär ausgerichtete Akademikerin, eine "Brückenbauerin", die wegen der Liebe zu dem Bergsteiger Mario von Zürich zurück in ihre Heimatstadt Aachen zieht. Dort wohnt auch Anitas verwitwete Tante Emmi nebst ihrer polnischen Haushaltshilfe Frau Bartosz in einem riesigen Bungalow. An den Samstagnachmittagen besucht Anita regelmäßig die Tante mit den "jadegrünen Augen". Es wird getratscht, gejammert und gelästert, meistens kommt Sherry dazu, und die Bartosz bringt ihre eigenen osteuropäischen Erfahrungen in diese sehr westdeutsche, schrullig-komische Familienkonstellation mit ein.

Die scheinbare Idylle zerbricht jäh, als Anitas Freund Mario beim Bergsteigen im Kaukasus tödlich verunglückt. Anita ist traumatisiert, und bleibt doch der Tante treu, die selber immer noch am plötzlichen Unfalltod ihres damals elfjährigen Sohnes Wolfgang leidet. "Kann man mit einer Sage den Schmerz betäuben", heißt es im zentralen Kapitel des Romans. Anita erzählt der Tante die Geschichte von Orpheus und Eurydike in der Unterwelt. Aber in einem entscheidenden Punkt weicht Anitas Version von der Überlieferung ab. Nicht weil Orpheus sich umdreht, entschwindet Eurydike. Sie wählt die Unterwelt, weil der Gesang des Orpheus sie nicht mehr rührt. Und der Sänger spürt nur noch den "Luftzug einer abrupten Leere".

Die Sage, die die trauernde Anita sich aneignet, hilft ihr über den Verlust des Geliebten Mario hinweg. Und langsam kann sie sich einem Mann ohne besondere Eigenschaften nähern, dem "falschen Herrn Brammertz", wie er stets genannt wird. Der unauffälige Witwer kümmert sich um Heimatmuseen. Mit Anita fährt er in die Mondlandschaft des Braunkohletagebaus zwischen Köln und Aachen. Die beiden gehen durch die Reste eines menschenleeren Dorfes, das bald den Baggern zum Opfer fallen wird. Ein makabres Szenario: "Die zersprungene blaue Kachel, der uralte Puppenarm, todschicker Sessel und vergessener Föhn." Lebenstrümmer allerorten, aber Anita fragt sich auch, wann der Herr Brammertz sie endlich küssen wird. Da steckt auch Zukunft drin.

Man muss sich einlassen auf diese dunkel funkelnde Liebesprosa, die den Schmerz und die Schrecken der Gegenwart niemals ausklammert. Aber für Anita und ihre Tante Emmi geht es diesmal gut aus. Brigitte Kronauer gönnt ihren beiden Frauen ein fast märchenhaftes Happy End. Und lässt auch den Leser glücklich zurück.

Brigitte Kronauer, Der Scheik von Aachen, Klett-Cotta Verlag Stuttgart, 399 S., 22,95 Euro, ISBN: 978-3-608-98314-2

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