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Eine Assistentin erinnert sich an Rudolf Augstein

Der Spiegel-Gründer und -Herausgeber Rudolf Augstein war einer der großen und bedeutenden Publizisten der Bundesrepublik. Sein Werk ist schon ausführlich beschrieben worden, kaum aber die private Persönlichkeit. Das holt jetzt seine langjährige Assistentin nach.

Von Wilfried Mommert, dpa 16.02.2016, 09:36

Berlin (dpa) - Rudolf Augsteins Freunde meinten über den schließlich fünf Mal Verheirateten, er brauche eine Frau, die die Suppe für ihn kocht, und lagen damit nicht ganz falsch. Hatte der beruflich erfolgreiche Spiegel-Gründer und -Herausgeber doch einmal resigniert festgestellt, dass einem ja nichts wirklich richtig gelinge.

Eine Frau, die mit einem Kind auf dem Arm am Gartenzaun steht und hinter mir herwinkt, wenn ich zur Arbeit fahre. Das ist leider schiefgegangen. Eine der Frauen an seiner beruflichen Seite, die langjährige Assistentin und Büroleiterin Irma Nelles, sah das aus der Nähe etwas realistischer und meinte einmal, Augstein, der Ärzte gerne aus dem Zimmer warf, brauche eher einen Therapeuten.

Jetzt hat Nelles (Jahrgang 1946) ihre sehr persönlichen Erinnerungen an den 2002 gestorbenen Spiegel-Patriarchen und ihre ungewöhnliche Beziehung veröffentlicht. Der Verlag haut dafür vielleicht etwas zu groß auf Marketing-Pauke, wenn er von einem Porträt des größten deutschen Verlegers spricht - da gibt es wohl noch andere Namen in dieser Liga - und den Mund noch voller nimmt, wenn er gar eine Sittengeschichte der Bundesrepublik und ihrer Medienlandschaft seit den 70er Jahren verspricht.

Nelles bietet nur, aber das ausführlich und interessant, einen Blick hinter die Kulissen des redaktionellen Spiegel-Alltags und seiner Hauptakteure, auch mit ihrem Jetset-Leben zwischen Sylt und St.Tropez, in das Nelles schließlich mit ihrer Reiseschreibmaschine einbezogen wird, weil der Herausgeber immer was diktieren will oder einfach ihre Gegenwart genießt.

Vor allem aber entwirft Nelles ein aufschlussreiches Psychogramm des Chefs, wie Augstein auch von seinem Chauffeur genannt wurde. Es ist das Psychogramm eines Mannes, der unter Schlaflosigkeit leidet und immer wieder in düstere Sprachlosigkeit versinkt. Er ertränkt seine Ruhelosigkeit und tiefe Schwermut oder heillose Angst vor der Einsamkeit immer wieder in Alkohol, sitzt vor dem Fernseher und sieht sich alte Filme an, mit Vorliebe Der dritte Mann, philosophiert über die Vergeblichkeit im Leben und unterstellt den meisten Frauen, sie hätten nur sein Geld im Kopf. Vor allem aber kann er seine Kriegserlebnisse als 18-jähriger Soldat in der Ukraine und im zerbombten Dresden nicht vergessen.

Es ist auch das Buch einer seltsamen Beziehungsgeschichte, beruflich und privat. Er will Sex, wovon sie hier nichts wissen will, sie ist liiert. Augstein versteht das nicht, sie solle sich nicht so anstellen, zwei Mal in der Woche, wie Luther schon sagte sei doch nicht zu viel verlangt. Sie bleibt trotzdem, er fördert sie auch. Vor allem gegen Ende wird sie es sein, die ihm eine unentbehrliche Hilfe ist.

Sie wohnt zeitweise im Gästezimmer seiner Villa. Dann wirft er sie auch wieder raus, entlässt sie fristlos, stellt sie wieder ein. Sie kündigt selbst, allerdings nur innerlich. Manchmal liest sich das wie eine Dokusoap nach dem Muster Gute Zeiten, schlechte Zeiten - wie im richtigen Leben (Was bisher geschah...) Es ist alles ein Missverständnis, sagt sie einmal in seiner Küche. Augsteins anhaltende Zutraulichkeit war mir unheimlich. Sie entzieht sich aber auch nicht endgültig.

Die meisten, auch Nelles, schätzten den Chef. Dazu meinte sie zur dpa: Wenn der Herausgeber rief, ließ fast jeder, der im "Spiegel" arbeitete, sofort alles stehen und liegen, um seine Aufträge auszuführen. Einfach deshalb, weil alle ihn so sehr schätzten. Er war ein sehr guter und außergewöhnlich sozial eingestellter Chef. Es gab viele - und ich gehörte dazu - die jahrzehntelang für ihn tätig waren. Und zwar mit Begeisterung.

Es gelingt Nelles nach eigenen Worten aber nur selten, mit Augstein ernsthaft über seine Befindlichkeiten zu reden, er wirkt im Gespräch oft abwesend, womit der Spiegel-Chef keine große Männer-Ausnahme gewesen sein dürfte. Dennoch braucht er sie. Du bist meine Übersetzerin. Die Leute verstehen mich manchmal nicht, sagt er, mit der weniger charmanten Ergänzung bei anderer Gelegenheit: Du interessierst dich für nichts und Dich braucht kein Mensch. Er kann damit nicht gemeint sein. Er braucht sie immer öfter. Als es ihm später immer schlechter geht, ist sie ihm zum Beispiel bei seiner Heinrich-Heine-Geschichte für den Spiegel unentbehrliche Co-Autorin.

Nelles begleitet auch Augsteins berufliche Kämpfe wie den versammelten Widerstand im Hause gegen den von Augstein favorisierten und schließlich durchgesetzten neuen Chefredakteur Stefan Aust oder die unermüdliche Kommentatoren-Tätigkeit des Herausgebers für sein Blatt. Er war ein unabhängiger Geist, der nie erwartete, daß der "Spiegel" ihm immer folgte, daß das Blatt immer auf seiner Linie lag, betonte Aust in seinem Augstein-Nachruf 2002.

Und 14 Jahre später meint der Spiegel-Autor Nils Minkmar in der Literaturbeilage des Magazins, die Nelles-Erinnerungen zeigten auch, dass man in Wahrheit keine Ahnung von Augstein hatte. Nelles selbst sagte der dpa dazu, Augstein habe sie immer wieder ermuntert, das eine oder andere Erlebnis aufzuschreiben. Der Mensch Augstein erscheint in den Erinnerungen seiner langjährigen Mitarbeiterin und Vertrauten in berührender, fast tragischer Weise vor allem in seinen letzten Lebensjahren, die von zunehmenden gesundheitlichen Problemen eines Mannes überschattet waren, der Ärzte am liebsten aus dem Haus geworfen hat (Ich brauche keinen Arzt, ich brauche überhaupt niemanden!). Nach der Diagnose einer Augenerkrankung fürchtete Augstein zu erblinden, immer mehr sollte oder musste ihm vorgelesen werden. Er entschuldigt sich dafür, nicht mehr jeden zu erkennen, den er früher mal gekannt habe. Ich war mal Chefredakteur bei dir, erinnert ihn ein Gesprächspartner.

1999 meint Augstein, nun geht es Gott sei Dank zu Ende, und: Ich lebe zu lange. Augstein resümiert sein Leben - er habe doch den interessantesten Beruf gehabt, den man sich denken könne. Ich hatte doch wirklich ein gutes Leben. Seine Memoiren hat Augstein nicht geschrieben. Er stirbt 2002 mit 79 Jahren. Einen neuen Herausgeber hat der Spiegel nicht, im Impressum steht immer noch Rudolf Augstein 1923-2002.

- Irma Nelles: Der Herausgeber - Erinnerungen an Rudolf Augstein, Aufbau Verlag, Berlin, 320 Seiten, 22,95 Euro, ISBN 978-3-351-03630-0.

Der Herausgeber