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Erzählungen Lehrstunde mit Eva Menasse: "Tiere für Fortgeschrittene"

"Um eine Spezies zu verstehen, braucht man mehrere Exemplare. Eines reicht nicht aus." Dieses Zitat stellt die Autorin ihren zu einem Buch gebündelten Kurzgeschichten voran. Ihr besonderes Interesse gilt dabei dem Homo sapiens. Denn: Wie sieht die Natur des modernen Menschen eigentlich aus?

Von Bettina Greve, dpa 04.04.2017, 11:32

Berlin (dpa) - Eine Frau trauert um ihren Jugendfreund. Er hätte es nicht gut gefunden, dass sie mit ihrer Patchwork-Familie in einen All-inclusive-Urlaub in der Türkei will. Sie bucht trotzdem, der Kinder wegen, die sich amüsieren sollen. Für sie selbst wird sich der Spaß in Grenzen halten, sie verharrt in ihrer Opferrolle.

Die in Österreich geborene Wahlberlinerin Eva Menasse ist eine scharfe Beobachterin des Alltags. Mit ihrem Roman "Vienna" kam sie 2005 groß heraus. Diesmal hat sie acht literarische Miniaturen zu einem Buch zusammengestellt, denen sie seltsam anmutende, aber wahre Tiermeldungen voranstellt: von Enten, die nur mit einer Hirnhälfte schlafen und mit der anderen Wache halten beispielsweise; oder von Schafen, die nicht geschoren werden müssen, weil sie ihre Wolle von allein abwerfen. "Tiere für Fortgeschrittene" lautet der Titel des Bandes. In den Geschichten kommen die Tiere allerdings nicht immer direkt, manchmal nur am Rande vor.

Im Mittelpunkt steht bei der Mittvierzigerin stets der Homo sapiens, die sogenannte Krone der Schöpfung. Sie berichtet von "ganz normalen" Leuten in einer aufgeklärten, saturierten Gesellschaft, von ihren individuellen Beziehungsgeflechten und ihren manchmal befremdlichen Gebaren. Nicht immer ist es dabei leicht, der Autorin in ihre von morbidem Glanz durchwirkte Erzählwelt zu folgen. Sie versteht sich zwar darauf, mit Worten zu berühren, aber auch zu verwirren.

Besonders irritierend und unaufgelöst ist das Szenario, das sie für die zentrale, seitenstärkste Erzählung der Zusammenstellung aufgebaut hat. Sie bemüht biblische Motive wie den Baum der Erkenntnis, dessen Früchte (in diesem Fall Zitronen) niemand pflücken darf: Künstler, Naturwissenschaftler und ein Psychologe (der Ich-Erzähler) begegnen sich in einer mysteriösen "Kolonie" in Italien, in der sie längere Zeit zusammen leben und arbeiten sollen. Ihre genaue Aufgabe kennen sie nicht, es wird nur angedeutet, dass sich eine nicht näher benannte Katastrophe anbahnt.

Das vermeintliche Paradies wird dem Jahrgang der Auserwählten schnell zur Last, "die Freiheit würgend, die Schönheit zum Gefängnis", schreibt Menasse. Ob sie hier ihr Jahr als Stipendiatin der Villa Massimo in Rom (2015) literarisch verarbeitet hat?

Die Autorin stellt viele große Fragen. Ist es noch zeitgemäß, an Gott zu glauben? Gehen wir der Apokalypse entgegen? All das bleibt unbeantwortet. Um was es ihr aber letztlich gehen dürfte, wird vor allem in einer Episode klar, in der ein sehr reicher Geschäftsmann, eigentlich eine Nebenfigur, in einem Bordell in Mailand vor aller Augen hemmungslos seinen Geschlechtstrieb auslebt. "Da die Gattung Mensch die genetisch programmierten Verhaltensmuster schon vor ein paar tausend Jahren überwunden hat, artet so etwas gern aus - das passende Verb, übrigens", kommentiert Menasse. Sie hat damit vielleicht einen entscheidenden Schlüsselsatz zum Verständnis formuliert.

So klar ist sie allerdings längst nicht immer. Sie bleibt an vielen Stellen kryptisch - und verliert möglicherweise den einen oder anderen Leser auf der Strecke.

Tiere für Fortgeschrittene