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Zeilenumbruch ist wichtiger als Umsatz: Lyrik im Aufbruch

Seit dem Leipziger Buchpreis für Jan Wagner findet Lyrik zunehmend Beachtung. Aber auf dem Buchmarkt spielt Poesie nur eine Nischenrolle - vielleicht kann das auch nicht anders sein, wie ein Kolloquium an der Uni Mainz zeigt.

Von Peter Zschunke, dpa 30.01.2016, 13:37

Mainz (dpa) - Gedichte sind oft widerspenstig. Sie verstören, stellen sich quer zu einer aufs Funktionieren bedachten Gesellschaft. Und doch erfüllen sie seit jeher eine tiefe Sehnsucht nach einem Ausdruck für Erfahrungen, die sich jeder prosaischen Beschreibung entziehen.

Lyrik gewinnt an Boden, sagt Claudia Paul beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels. In ihrer konzentrierten Sprachverdichtung passe Lyrik sehr gut in unsere Zeit der SMS, des Tweets, des Chats. Ein Kolloquium des Instituts für Buchwissenschaft an der Uni Mainz ist jetzt der Frage nachgegangen, wie es mit dem Marktwert von Gedichten steht. Ein Anlass war im vergangenen Jahr der Gedichtband Regentonnenvariationen von Jan Wagner, der als erster Lyriktitel mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde.

Die berühmte Schwalbe macht noch nicht den Frühling, gibt der Göttinger Verleger Thedel von Wallmoden im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur zu bedenken. Der Preis für dieses Buch sei hochverdient, aber man dürfe nicht daraus schließen, dass damit jetzt eine Lyrik-Konjunktur einsetze. Manche Autoren seien auf Anhieb erfolgreich, bei anderen sei Geduld nötig. Auf Literatur-Wettbewerben, in Literaturzeitschriften und im persönlichen Netzwerk schaut sich der Verleger des Wallstein-Verlags nach poetischen Talenten um. Mitunter dauere es mehrere Jahre, bis dann ein erstes Buch veröffentlicht werde.

Die Feuilletons der überregionalen Zeitungen haben im vergangenen Jahr nach Angaben des Berliner Literaturwissenschaftlers Alexander Nebrig etwa 40 Lyrik-Neuerscheinungen besprochen. Nach Daten des Börsenvereins von 2014 machen Lyriktitel fünf Prozent aller belletristischen Bücher aus. Der Umsatzanteil von Lyrik erreicht aber nur ein Prozent der Belletristik. Das Adressbuch für den deutschen Buchhandel führt in Deutschland 371 Verlage auf, die sich auf Lyrik spezialisiert haben.

Was ist Lyrik wert? Das sei eine schwierige Frage, antwortet die Berliner Dichterin und Lyrik-Verlegerin Daniela Seel - denn Gedichte seien doch eigentlich immateriell. Sobald Lyrik kapitalisiert, in Kategorien des Geldes betrachtet wird, verliert sie ihr innerstes Wesen. Keiner, der Gedichte schreibt, kann davon leben, sagt Seel. So habe auch der größere Teil der Autorinnen und Autoren in ihrem Verlag Kookbooks einen Brotberuf.

Ebenso wenig fassen lässt sich der literarische Wert von Gedichten. Dichterische Sprache entziehe sich den Kriterien des Schönen und des Wohlbefindens, sagt Seel. Darum geht es nur am Rande. Viel entscheidender sei der Einfluss von Lyrik auf das Verhältnis zur Zeit: Lyrische Rede ist immer auch eine Verdichtung der Zeitstruktur. Jeder Zeilenbruch bringe den Zeitablauf ins Stocken, verändere die vermeintliche Kontinuität im Lesefluss.

Mit ihrem eindringlichen Sprachklang beim Rezitieren von Gedichten verkörpert Daniela Seel den Ereignis-Charakter von Literatur. Gedichte haben ihren Ort nicht nur in der stillen Abgeschiedenheit des einsamen Lesers, sondern zunehmend auf Bühnen für Poetry Slams oder Open-Mic-Sessions, bis hin zum Freestyle-Rap. Bestimmte Formen poetischer Sprache seien nur noch als Song wahrnehmbar, sagt der Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Michael Krüger, und nennt als Beispiel Bob Dylan.

Gedichte füllten einen leeren Raum, der in einer durchrationalisierten Gesellschaft nicht besetzt werde, erklärt Krüger. Sie werden als einzige Ausdrucksform angesehen, um eine bestimmte mentale, geistige, seelische Disposition anderen zu erklären. Gedichte zu verstehen, sei nicht immer einfach. Aber sie müssten ernst genommen werden und nicht durch diesen albernen Kulturverwertungsreißwolf gedreht werden.

Krüger, ehemaliger Leiter des Hanser-Verlags, kritisiert die hohen Vorschüsse für populäre Romanautoren - bei einem Flop geht dann viel Geld verloren. Erst kürzlich habe es in einem großen Verlag wieder einen solchen Fall gegeben: Von der Abschreibungssumme hätte man 120 Gedichtbände finanzieren können.