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Unabhängigkeit In Edinburgh wird wieder gepokert

Die schottische Regierung nutzt das erneute Referendum zur Unabhängigkeit vor allem als Drohkulisse gegen Westminster.

Von Jörn Wegner 20.10.2016, 01:01

Edinburgh l Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon will noch in dieser Woche einen Gesetzentwurf für ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum einbringen, auch mit dem Ziel, das Land in der EU zu halten. Der Zeitpunkt scheint günstig, denn der Katzenjammer nach dem Brexit-Votum ist vor allem in Schottland laut, wo eine Mehrheit gegen den EU-Austritt gestimmt hat. Jetzt ließe sich die oft postulierte schottische EU-Freundschaft mit dem Wunsch nach Unabhängigkeit von London verknüpfen. Der hohe Norden müsste seine Öleinnahmen nicht mehr mit dem wirtschaftlich und sozial dahinsiechenden Rest Großbritanniens teilen, der EU-Binnenmarkt für Schottland bliebe offen.

Schottlands Wirtschaft geht es vergleichsweise gut, auch wenn der Ölpreisverfall Probleme mitbringt. Das Öl in der Nordsee reicht noch 30 Jahre, schätzen Experten. Auf weitere Quellen wird gehofft. Noch mehr Geld als Öl spülen Lebensmittelexporte ins Land, allen voran eine halbe Milliarde Liter Whisky jährlich. 15 Millionen Touristen besuchen das Land im Jahr, Tendenz steigend. Und für die Software-Industrie ist Schottland Schwerpunkt, genauso wie für den Maschinenbau. Dem dünn besiedelten Land geht es deutlich besser als dem deindustrialisierten England.

Doch der Verbleib im EU-Binnenmarkt könnte den Verlust des britischen Marktes nicht ausgleichen. Schottland „exportiert“ jährlich Waren im Wert von 50 Milliarden Euro ins restliche Königreich. Das Exportvolumen ins Ausland einschließlich EU ist nur halb so groß.

Und: Nach Brexit und Scoxit droht der Shexit. Die Shetland-Inseln haben bereits gedroht, im Fall der schottischen Unabhängigkeit die eigene Souveränität und den Anschluss an Rest-Großbritannien zu erklären. Ein ähnliches Rumoren ist von den Orkney-Inseln zu vernehmen. Damit würden die dort zahlreiche gelegenen Ölgründe verloren gehen.

Die Spaltung des Landes ist dann auch die größte Herausforderung für Sturgeon und ihre Scottish National Party (SNP). Die Unabhängigkeitskampagne von 2014 hat Familien polarisiert und Freundschaften zerstört. 55 Prozent der Schotten stimmten damals gegen die Abspaltung vom Königkreich, der Rest dafür. Sturgeons Weg, die Unabhängigkeit mit einem Bekenntnis zu Europa zu verbinden, ist ein Versuch, über das Unabhängigkeitslager hinaus Menschen zu erreichen, nämlich jene, die weder mit dem Braveheart-Nationalismus von 2014 noch mit der dumpf-populistischen Brexit-Kampagne von 2016 etwas anfangen konnten. Denn Europa-Freunde und Verfechter der schottischen Unabhängigkeit sind keinesfalls immer deckungsgleich. Warum man 2014 für die Unabhängigkeit Schottlands stimmen, sich jetzt aber in Abhängigkeit zur EU begeben solle, ist eine häufige Frage in sozialen Netzwerken. Anstelle des integrativen Nationalismus der regierenden linken SNP, dem ein multikulturelles Schottland zugrunde liegt, vertreten nicht wenige Anhänger der schottischen Unabhängkeit einen ausgrenzenden Nationalismus, der in der Brexit-Kampagne befeuert wurde.

Bei all den Unwägbarkeiten hält sich Nicola Sturgeon derzeit ein Hintertürchen auf. In London versucht sie eine überparteiliche Allianz gegen den harten Brexit zu formieren. Damit folgt sie in gewisser Weise auch der Taktik ihres Amtsvorgängers, des charismatischen und äußerst populären Alex Salmond. Der hatte die schottische Unabhängigkeit meisterhaft als Drohkulisse gegenüber Westminster aufgebaut und damit überhaupt erst die weitgehende Souveränität seines Landes innerhalb des Vereinigten Königreichs erreicht.

Infografik: Das schottische Unabhängigkeits-Referendum im Social Web | Statista
Mehr Statistiken finden Sie bei Statista, Referenz