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Verfassungsreform Erdogan als „gewählter König“

Präsident Erdogan soll mehr Macht bekommen, das Parlament weniger. Die Chancen stehen gut, dass die Abgeordneten dem Vorschlag folgen.

09.01.2017, 23:01

Istanbul (dpa) l Die Millionenmetropole Istanbul liegt derzeit unter einer Schneedecke. In den Parks bewerfen sich Türken mit Schneebällen. Besonders auffällig: Das ausgelassene Lachen, denn eigentlich ist die Grundstimmung seit Monaten niedergeschlagen. Kein Thema spaltet die türkische Gesellschaft so stark wie das Präsidialsystem, für das Staatschef Recep Tayyip Erdogan mit aller Kraft kämpft. Über die Verfassungs- änderungen soll zunächst das Parlament und im Frühjahr dann das Volk abstimmen. Die Reform wäre der tiefste Einschnitt seit der Verabschiedung der Verfassung im Jahr 1982. Am Montag hat das Parlament in Ankara mit der Debatte über ein Präsidialsystem in der Türkei begonnen. Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu von der Mitte-Links-Partei CHP warnt: Sie wollen die demokratisch-parlamentarische Staatsform in ein totalitäres Regime verwandeln.“ Der CHP-Abgeordnete Bülent Tezcan sagt: „Das ist ein Vorschlag, um einen gewählten König zu schaffen.“

Die Reform würde Erdogan mit einer Macht ausstatten, wie sie einzelne Politiker in Demokratien wohl selten auf sich vereinen. Erdogan würde nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Er könnte – wie derzeit im Ausnahmezustand – weitgehend per Dekret regieren. Tatsächlich gibt Erdogan der Regierung schon jetzt den Kurs vor. Und nicht nur in diesem Punkt beschreibt die Reform an sich den Status Quo, der nun aber legalisiert werden soll. Etwa in Artikel 8 des Änderungsvorschlags, mit dem das Verbot der Parteizugehörigkeit für den Präsidenten gekippt werden soll. Erdogan hat nie aufgehört, die Strippen in der AKP zu ziehen. Entsprechend treu folgen ihm die AKP-Abgeordneten nun auf dem Weg der Reform. Zwei Wochen lang soll debatiert werden.

Doch alleine kommt die islamisch-konservative AKP nicht auf die notwendigen 330 Stimmen, um eine Volksabstimmung über das Referendum in die Wege zu leiten. Der Chef der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahceli, hat angekündigt, die Reform zu unterstützen. Womöglich spekuliert er auf einen der Posten als Vizepräsident, die Erdogan unter einem Präsidialsystem nach Gutdünken und in beliebiger Zahl vergeben kann.

Mindestens sechs der 40 MHP-Abgeordneten haben sich Medienberichten zufolge allerdings bereits offen dazu bekannt, die Verfassungsreform im Parlament nicht mitzutragen. Mit einem Scheitern der Reform im Parlament wird dennoch nicht gerechnet: Die AKP benötigt nur 14 der 40 MHP-Stimmen. Danach soll im Frühjahr das Volk das Sagen haben – und auch dort ist angesichts der Verehrung, die Erdogan die notwendige einfache Mehrheit für das Präsidialsystem wahrscheinlich.