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Abschlussfahrt Wanderung durchs Windland

Die Saisonabschlussfahrt der Leser-Reisen führte im November nach Rügen. Hier finden Besucher im Herbst vor allem Abgeschiedenheit und Ruhe.

Von Anne Toss 28.11.2016, 11:58

Rügen l Lediglich ein Streifen Hecke hindert den Wind daran, ungebremst über die Halbinsel Wittow hinwegzufegen. Sanddorn- und Schlehensträucher haben sich mit ihren dornigen Ästen so ineinander verrankt, dass der schmale Weg vom Kap Arkona, einem Flächendenkmal im Norden der Insel Rügen, zum Fischerdörfchen Vitt von den Böen abgeschirmt wird. Vereinzelt leuchten in der Hecke noch orangenfarbige Beeren des Sanddorns auf. Und ab und an erhaschen Fußgänger auch einen Blick auf die tobende Ostsee. Es ist Herbst auf Rügen, und Wittow macht seinem Namen alle Ehre, wird der Begriff aus dem Slawischen doch mit Windland übersetzt.

Werner Lange, waschechter Rügener und nebenberuflich Fremdenführer, geht mit zügigen Schritten auf dem Hochuferweg an der Steilküste entlang. Zwei Tage begleitet er 65 Besucher aus Sachsen-Anhalt, die sich für die diesjährige Abschlussfahrt der Volksstimme-Leser-Reisen angemeldet haben. Vom Seebad Breege aus werden mit dem Bus verschiedene Sehenswürdigkeiten angesteuert, unter anderem die Orte Ralswiek und Binz.

Am Kap Arkona hat sich zu dem Wind unterdessen Nieselregen gesellt. Für Werner Lange eine Nebensächlichkeit, er möchte Besuchern möglichst viel von seiner Heimat zeigen – und das bei jedem Wetter. Herbst und Winter sind dafür sogar seine favorisierten Jahreszeiten: „Der Herbst ist eine gute Zeit für Erholung. Wer im Sommer zum Beispiel schon einmal in Binz war, der weiß, wie das ist. Da steht man sich ja auf den Zehen. Und im Winter findet man hier besonders viel Ruhe. Für die Jüngeren ist das natürlich nichts“, sagt Lange und lacht.

Nach einem halbstündigen Fußmarsch tauchen 13 kleine Häuser mit herabgezogenen Reetdächern auf, die sich in einer Uferschlucht aneinanderreihen. Vitt ist das kleinste Dorf der Insel, seit 1973 gehört es zum Weltkulturerbe der Unesco. Entstanden ist es wohl aus einem Handelsplatz für Ostseeheringe, der damals „Vittas“ oder „Vitten“ genannt wurde. Aus der einzigen Gaststätte „Zum Goldenen Anker“ dringen das Klappern von Geschirr und Stimmen nach draußen. „Zurzeit leben hier 19 Einwohner“, berichtet Werner Lange, „und in der Gaststätte gibt es genau 19 Stühle, die nur für diese Bewohner eingebaut wurden. Stirbt einer, kommt ein Stuhl weg; wird ein Kind geboren, kommt ein Stuhl dazu. So einfach ist das.“

Vom Hafen des Fischerdorfes hat man zudem eine gute Aussicht auf die mächtige Steilküste, die über 40 Meter hoch hinaufragt und aus Kreide und Geschiebemergel besteht. Der Anblick erfüllt Werner Lange allerdings auch mit Sorge: „Rügen wird im Schnitt pro Jahr 30 Zentimeter kleiner.“ Die Ostsee nagt unermüdlich an dem Küstenprofil, vor vier Jahren stürzten Tausende Kubikmeter Kreide- und Erdmassen am Kap Arkona ins Meer.

Hans-Joachim Rienecker (77) und seine Frau Helga (78) hören Werner Lange gespannt zu. Sie nehmen bereits zum elften Mal an der Saisonabschlussfahrt teil. „Für uns ist das eine feste Tradition“, sagt Hans-Joachim Rienecker. Das Ehepaar aus Magdeburg ist besonders reisefreudig, seit 1990 sind sie sage und schreibe 80 Mal auf Reisen gegangen. Ihr Antrieb: Etwas Neues, Interessantes zu erfahren, obwohl man vielleicht schon eine ganze Menge wusste. Außerdem gebe es für sie nichts Schlimmeres, als zuhause rumzusitzen.

Durch einen Zufall konnten sie auch Helgas Schwester überzeugen, bei den Reisen mitzufahren. „Ich bin im Garten gestürzt und habe mir an der Schulter einen Splitterbruch zugezogen“, sagt Hans-Joachim Rienecker. Die bereits gebuchte Fahrt fiel für ihn also aus, seine Frau überredete daraufhin ihre Schwester, einzuspringen. Seither verreisen sie bereits zum fünften Mal als Trio. „Wir haben einfach viel Spaß, erleben viel. Die Neugier kommt natürlich auch noch dazu“, berichtet das Ehepaar und lacht.

Um von der Halbinsel Wittow das Festland zu erreichen, muss die Schaabe, eine etwa zehn Kilometer lange Nehrung, überquert werden. Sie verbindet die Halbinseln Wittow und Jasmund. Bei der Fahrt fällt auf, dass Rügen nicht allein auf seinen Status als Kur- und Badeort reduziert werden kann. So werden etwa zwei Drittel der Inselfläche landwirtschaftlich genutzt, 450 Hektar davon gehören dem Landwirt Jan-Thomas Lange. Land, das er selbst eigentlich nie bewirtschaften wollte.

In Lieschow, im Westen der Insel Rügen, betreibt der Landwirt einen Erlebnisbauernhof, inklusive Ferienwohnungen, Hofladen und Hofküche. Sein Vater hat den Betrieb 1990 gepachtet, den Sohn hat es nie dort gehalten. „Ich habe von Landwirtschaft keine Ahnung gehabt. Also bin ich nach Berlin, habe dort Versicherungskaufmann gelernt“, sagt Jan-Thomas Lange.

In Berlin habe er zwar Golf gespielt und Geld verdient, aber richtig warm geworden mit Stadt und Menschen ist er nicht. „Das war nichts für mich. Du lebst mit Millionen Menschen auf einem Fleck, aber bist trotzdem alleine. Ich hatte nur die Arbeit, keine Freunde.“ Also kehrte Lange nach Lieschow zurück, übernahm vor sechs Jahren den Hof seines Vaters. Seither hat er auch so manchen Reinfall wegstecken müssen. „Ich habe zum Beispiel zehn Hektar Spargel angebaut, dann aber gemerkt, dass der in dieser Region einfach langsamer wächst, da es zu kalt ist. Die Spargelzeit war also schon längst vorbei, als ich mit meinen Stangen ums Eck kam. Natürlich wollte dann keiner mehr Spargel essen“, berichtet Lange.

Mittlerweile nimmt er das allerdings mit Humor. Sein Konzept „Familien-Bauernhof“ ist letztendlich aufgegangen. Im Jahr besuchen zwischen 40 000 und 50 000 Gäste den Hof, allein zu manchen Tagesveranstaltungen sind 5000 Menschen gekommen. „Kinder sollen das wirkliche Leben auf dem Land kennenlernen“, sagt Lange. Daher bietet er Aktionen wie Rapsöl pressen, Buttern, aber auch Traktorfahren und Tiere füttern an.

Bei ihm im Scheunen-Restaurant ist die Reisegruppe zum Spanferkel-Essen und Brotbacken eingeladen. Mit dabei sind auch Ursula Lörke (80) und Ruth Gabriel (81), zwei Magdeburgerinnen, die ihrem Alter mit viel Bewegung trotzen. Beide sind im örtlichen Wanderverein und „jeden Tag auf Achse“. Vor sechs Jahren ist Ruth Gabriel noch die letzte Etappe auf dem Jakobsweg gelaufen. Direkt am Tisch gegenüber hat Doris Kersten (76) mit ihren Töchtern Elke Keddi (55) und Dagmar Kratzius (57) Platz genommen. Sie erleben bereits ihre siebte gemeinsame Abschlussfahrt. „Wir planen einmal im Jahr ein Wochenende, an dem wir mit unserer Mutter verreisen“, sagt Elke Keddi. In der Zeit müssen sich die Männer zuhause alleine durchschlagen. „Sie wollen ja nicht mit, dürften aber“, merkt Dagmar Kratzius an und lacht.

Bei einer Rügenreise darf trotz alledem der Besuch eines typischen Ostseebades nicht fehlen. In Binz zeigte sich erneut, dass der Herbst Ruhe auf der Insel einkehren lässt. Der Strand liegt einsam und beschaulich vor einem, auf der Strandpromenade sind nur wenige Personen unterwegs. Endlich bietet sich die Gelegenheit, die Bädervillen in aller Ruhe zu betrachten. Mit ihren filigranen hölzernen Veranden, Loggien oder Balkonen und verspielten Jugendstilelementen haben sie den damaligen Bäderstil geprägt.