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Atomkraftwerke „Zeitbomben“ an der deutschen Grenze

Belgische Atomkraftwerke sind nicht frei von Pannen. Politiker, Aktivisten und Anwohner an der Grenze zu Deutschland fordern: Abschalten!

Von Michael Winde 07.02.2017, 23:01

Brüssel (dpa) l Von „belgischen Bröckel-Reaktoren“ spricht Nordrhein-Westfalens Umweltminister Johannes Remmel, die Grünen-Umweltexpertin Sylvia Kotting-Uhl gar von einer „Zeitbombe an unserer Grenze“. Wenn in Deutschland über belgische Atomkraftwerke gesprochen wird, schwingt Panik mit.

Seit 2012 Tausende feine Risse in zwei Reaktorbehältern gefunden wurden, fühlen sich die deutschen Mahner bei jedem Vorfall bestätigt und fordern: Die Meiler Doel 3 und Tihange 2 müssen vom Netz. Aber sind belgische Reaktoren tatsächlich so gefährlich? Und sind sie anfälliger als die deutschen?

Ganz so eindeutig, wie mitunter behauptet wird, ist es wohl nicht. Ja, die belgischen Akw haben häufiger Pannen als deutsche. Aber eine Gefahr, dass die Kraftwerke bald in die Luft fliegen, sehen Experten nicht. Die OECD-Kernenergie-Agentur NEA, in der auch Belgien und Deutschland organisiert sind, verweist auf die hohen Sicherheitsstandards in beiden Ländern. Man habe großes Vertrauen, dass die Aufsichtsbehörden die Gesundheit und Sicherheit der Menschen schützen, heißt es dort. Und auch die Reaktorsicherheitskommission in Bonn sieht keine akute Gefahr – solange alles nach Plan läuft.

Reaktorsicherheitsexperte Hans-Josef Allelein von der RWTH Aachen warnt vor Hysterie. Ihm bereitet lediglich die belgische Sicherheitskultur Kopfzerbrechen. Die Personaldecke sei dünn. Der Chef der Aufsichtsbehörde FANC habe früher das Kraftwerk Doel geleitet. Es bestünden Mängel im Brandschutz. Eigentlich hatte Belgien bereits den Atomausstieg für 2015 ins Auge gefasst, doch dann entschied sich die Regierung, die Laufzeit einiger Meiler bis 2025 zu verlängern. Die internationale Atomenergie-Organisation IAEA schickte deshalb Experten zur Überprüfung.

Infografik: Grenznahe Atomkraftwerke  | Statista
Mehr Statistiken finden Sie bei Statista, Referenz

Die zusammenfassenden Berichte lesen sich in etwa so: Die Betreiber tun viel für die Sicherheit – aber: Es gibt Luft nach oben. Es fehle ausgebildetes Personal, heißt es. Führungsprozesse müssten sich an die verlängerte Laufzeit anpassen.

Die beiden besonders kritisch beäugten Anlagen sollen planmäßig nach 40 Jahren vom Netz gehen: Doel 3 im Oktober 2022, Tihange 2 ein knappes Jahr später. Müssen die Grenzbewohner also noch gut sechs Jahre zittern? Allelein rät: „Hinschauen, unbedingt“. Aber Angst müsse man keine haben.

Maßstab ist die 1990 eingeführte Ines-Skala. Ereignisse, die mit 0 bewertet werden, haben keine oder nur sehr geringe Bedeutung. Die Atomkatastrophe von Tschernobyl liegt auf der höchsten Stufe 7. Die belgische Atomaufsicht FANC registrierte zwischen 2007 und 2016 in den Kraftwerken Tihange und Doel immerhin 94 Zwischenfälle der Stufe 1. Zum Vergleich: In deutschen Kernkraftwerken gab zwischen 2007 und November 2016 nur vier derartige Ereignisse.

Die belgische Aufsicht hält den reinen Zahlenvergleich für wenig aussagekräftig. „Die Anzahl der Vorfälle, die einer Ines-Bewertung unterzogen werden, ist kein Indikator für die Sicherheit der betreffenden Einrichtung“, sagt ein FANC-Sprecher. Die Nachbarn indes sind beunruhigt. Eine Allianz von 90 Kommunen aus den Niederlanden, Luxemburg, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen kämpft für ein Abschalten des grenznahen Meilers Tihange 2. Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) forderte vergangenes Jahr, Doel 3 und Tihange 2 vom Netz zu nehmen – für eine eingehende Überprüfung.

Davon will Belgien allerdings nichts wissen. „Im Moment bin ich zu 100 Prozent gewiss, dass unsere Atomanlagen sicher sind“, sagte Belgiens Innenminister Jan Jambon im Dezember. Damals wurde ein deutsch-belgisches Nuklear- abkommen unterzeichnet. Eine neu gegründete Kommission soll vor Mitte des Jahres erstmals tagen, wie das Bundesumweltministerium mitteilt. Näher ist man sich nicht gekommen.