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Europapolitik Brok: Türkei wichtiger als im Kalten Krieg

CDU-Europaparlamentarier Elmar Brok am Montag Gast der Landtagsfraktion der Christdemokraten in Magdeburg. Die Volksstimme sprach mit ihm.

Von Steffen Honig 24.08.2016, 01:01

Die Türkei steht wegen des niedergeschlagenen Putsches und der Flüchtlinge im Mittelpunkt aller Debatten in der Europapolitik. Sie sind gegen ein Ende der Beitrittsgespräche. Warum?

Elmar Brok: Man darf die Tür nicht zuschlagen. Gegenwärtig werden die Verhandlungen ohnehin nicht fortgesetzt. Obwohl ich es interessant fände, die Kapitel 23 und 24, wo es um Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit geht, zu öffnen. Dann würden die Tatsachen auf den Tisch kommen. Andererseits brauchen wir die Türkei in der Flüchtlingsfrage. Und wir benötigen sie zur Beendigung des Krieges in Syrien und Irak, genauso wie wir dabei mit Saudi-Arabien und Iran zusammenarbeiten. Im Vergleich zu diesen Ländern ist es in der Türkei noch nicht ganz so schlimm.

Verhandlungen führt man in der Regel, um zu einem Ergebnis zu kommen. Wird die Türkei also eines Tages Mitglied der EU sein?

Ich sehe das nicht, obwohl ich nicht weiß, was in zehn oder 20 Jahren sein wird. Eine Türkei, die sich nationalistisch entwickelt und zunehmend Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit aufkommen lässt, kann nach den Kopenhagener Kriterien nicht Mitglied der Europäischen Union werden.

Was schlagen Sie als Lösung vor?

Wir müssen zwischen einer Vollmitgliedschaft und den heutigen Möglichkeiten noch eine neue Variante einführen, eine Art Europäischer Wirtschaftsraum plus oder Norwegen-Lösung. Dabei muss der Staat nicht Mitglied der EU sein, aber er kann am Binnenmarkt teilhaben. Norwegen gehört zum Schengen-Raum und zahlt wie die Schweiz jährliche Beiträge für die Regionalpolitik der Europäischen Union. Bei der Verteilung von Flüchtlingen haben einige EU-Länder nicht mitgemacht, die Schweiz und Norwegen als Nichtmitglieder aber sehr wohl. Ich jedenfalls halte die Türkei heute strategisch für wichtiger als zur Zeit des Kalten Krieges. Es ist, wie Clausewitz sagt: Sorge dafür, dass der Nachbar deines potenziellen Feindes dein Freund ist.

Was passiert, wenn der Flüchtlingspakt platzt?

Die Türkei hat versichert, die Vereinbarung einzuhalten. Und wir wollen doch auch nicht, dass die Türken über Nacht ihre Terrorbekämpfung aufgeben. Zum Flüchtlingspakt gehört die Visafrage: Hier hat die Türkei von 72 Kriterien sieben noch nicht erfüllt. Wir haben noch zwei Monate für Verhandlungen. Die müssen wir nutzen.

Was sollen wir machen, wenn die Flüchtlinge wieder in drastischen Größenordnungen in Griechenland landen, die Grenzen schließen?

Wer soll die Diskussion aushalten, wenn die Menschen vor den Zäunen verrecken? Mit meinen Vorstellungen von christlichen Werten ist es jedenfalls nicht vereinbar, dass Lager mit Tausenden Flüchtlingen vor solchen Zäunen entstehen. Eine Grenzschließung darf es nicht geben.

Es gibt weitere Beitrittskandidaten auf dem Westbalkan. Wer hat welche Chancen auf den Beitritt?

Wenn ich sehe, wie schwierig soeben die Justizreform in Albanien war, wenn ich die verfahrene Situation in Mazedonien betrachte oder registriere, dass in Bosnien-Herzegowina keine Einigung auf eine Verfassung möglich ist, dann fehlt mir momentan der Glaube daran, dass diese Länder den letzten Sprung schaffen. Wir dürfen nur Länder in die Europäische Union aufnehmen, die ihre inneren Probleme gelöst haben. Das sagen wir diesen Staaten auch deutlich.

Wie sieht es mit Serbien aus, das als Schlüsselstaat auf dem Westbalkan gesehen wird?

Serbien kann es am ehesten schaffen, Mitglied der EU zuwerden. Dafür muss die Regierung eine akzeptable Lösung in der Kosovo-Frage finden, und ich habe den Eindruck, dass Premier Aleksandar Vucic das will. Vucic hat gesagt, sein Herz sei bei Russland, aber der Kopf sei für Brüssel. Serbien muss dabei sein, um Stabilität zu schaffen und die Kriegsgefahr zu mindern.

Auch der Ukraine ist eine europäische Perspektive versprochen. Wie realistisch ist das?

Wir müssen die Herzen der Menschen im Wettkampf der Systeme gewinnen. Wenn die Wünsche der Menschen in 20 Jahren nicht erfüllt werden, fühlen sie sich betrogen und schauen in die andere Richtung. Also müssen wir Zwischenziele formulieren, die auch die endgültigen sein können. Die Norwegen-Lösung habe ich bereits angesprochen. Dadurch wäre die Ukraine im Rahmen der Möglichkeiten an Europa gebunden.

Die Ukraine-Krise hat die Wirtschaftssanktionen gegen Russland ausgelöst, deren Sinn vielfach bezweifelt wird. Wie lange sollen die Beschränkungen noch aufrecht erhalten werden?

Es ist erstaunlich, dass die AfD und die Linke eine Annäherung an Russland wollen und gleichzeitig eine Verdammnis von Erdogan. Ich möchte wissen, wo bei Meinungsfreiheit und freien Wahlen Moskau besser ist als Ankara. Die Türkei hatte im Vorjahr noch völlig freie Wahlen. Die gibt es in Russland schon seit 15 Jahren nicht mehr. Aber wir brauchen auch die Russen, deshalb dürfen wir die Gesprächskanäle nicht zerschlagen. Das wäre das Ende der Politik. Dies ist immer der Schritt zum Krieg, weil man die Fähigkeit zu Kompromissen verliert.

Und was ist mit den Sanktionen?

Russland muss die Bedingungen zur Beendigung erfüllen. Der Ostausschuss der deutschen Wirtschaft und die erwähnte Interessengleichheit von Sahra Wagenknecht und Frauke Petry und ähnliche Positionen in Europa erwecken bei Präsident Wladimir Putin den falschen Eindruck, dass er gewinnen kann. Wir müssen gemeinsam auf der Herstellung des Völkerrechts in der Ostukraine bestehen. Für die Krim muss man einen Modus Vivendi finden.

Um den Brexit ist es ruhiger geworden. Kommt das dicke Ende noch?

Ich schätze, die Briten werden Anfang des nächsten Jahres einen Verhandlungsvorschlag nach Artikel 50 des EU-Vertrages zum Austritt vorlegen. Dann werden richtig harte Scheidungsverhandlungen folgen. Ein Detailbeispiel: 43 Jahre haben die britischen Beamten in Brüssel für Großbritannien gearbeitet. London wird solange die Pensionen mitbezahlen müssen, bis der Letzte gestorben ist. Das ist wie bei Ehescheidungen mit dem Unterhalt. Wenn es ein Verhandlungsergebnis gibt, müssen alle Mitgliedsstaaten und das Europäische Parlament zustimmen. Es wird so verhindert werden, dass die Briten den Nutzen vom Binnenmarkt haben und Deutschland und die anderen EU-Staaten dafür den Preis zahlen müssen.