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Flüchtlingskrise Neue Schranken quer durch Europa

Wie die Flüchtlings-Krise die west- und die osteuropäischen EU-Staaten spaltet. Eine Analyse.

Von Steffen Honig 01.10.2015, 01:01

Berlin l Die Bewältigung der Flüchtlingskrise entzweit die Europäische Union. Die Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Mitgliedsländern und Staatengruppen übertreffen an Heftigkeit den gerade mühsam überwundenen Zank in der Griechenland-Frage um Längen. Ein Milliarden-Euro- Paket ist offenbar leichter zu schnüren, als ein vereinbartes demokratisches und humanitäres Wertesystem dann einzuhalten, wenn es darauf ankommt.

Die ständigen Erweiterungen der EU in den vergangenen 25 Jahren sind zu Lasten der Vertiefung der Integration in der Union gegangen. Das rächt sich bitter.

Sofort belebt sich die Debatte über das Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten. Wie immer, wenn sich in der EU grundsätzlich etwas ändert. Beim Lissabon-Vertrag war das so oder bei der Osterweiterung. Zwar gibt es die Schengen-Freiheit und den Euro, aber nicht für alle und im Fall der offenen Grenzen jederzeit revidierbar.

Um den Kern der EU – Frankreich und Deutschland – gruppieren sich eigene Interessensphären. Der Süden mit Portugal, Spanien, Griechenland und auch Italien bemüht sich verzweifelt um die Bewältigung der Wirtschaftskrise, das Baltikum muss sich gegen Russland behaupten, in Großbritannien steht ein Referendum über den EU-Austritt an.

Eine Besonderheit sind die osteuropäischen Staaten. Nach der politischen Wende gab es für sie nur eine Marschrichtung: vorwärts in die EU. Als das Ziel erreicht war, hieß es plötzlich: Europa ja, aber  ...

Nach dem sogenannten Big-Bang, dem Beitritt von zehn mittel- und osteuropäischen Staaten zur Europäischen Union im Jahr 2004, profilierten sich etwa der polnische Präsident Lech Kaczynski, der lange gegen den Lissabon-Vertrag kämpfte, und sein tschechischer Kollege Vaclav Klaus (Zitat: „Wenn es nötig sein sollte, den Euro zu liquidieren, melde ich mich freiwillig.“) als notorische EU-Nörgler.

Polen und Tschechien sind seit 1991 mit der Slowakei und Ungarn in einer nach der ungarischen Stadt Visegrad benannten Vierer-Staatengruppe verbunden. Sie war damals gegründet worden, um die Transformation der früheren Diktaturen zu Demokratien zu fördern.

Die Einflusskraft blieb, auch durch internen Streit, begrenzt. In der Flüchtlingskrise fokussierte sich jedoch die internationale Aufmerksamkeit plötzlich auf das Quartett: Vehement lehnte es eine EU-weite Flüchtlingsquote ab. Man wolle selbst kontrollieren, wie viele Flüchtlinge aufgenommen würden, erklärte der tschechische Außenminister Lubomir Zaoralek.

Zum Wortführer der Osteuropäer machte sich der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban. Ausgerechnet der Mann, der sich wegen seiner Attacken auf die Meinungsfreiheit und Unabhängigkeit der Justiz bereits heftige Kritik wegen der Verletzung von EU-Grundrechten einfing.

„Wir wollen uns nicht ändern“, so lautet nun die klare Absage des rechtskonservativen Premiers an insbesondere muslimische Zuwanderung in sein Land. Mit dem eigenmächtigen Bau von Stacheldrahtzäunen, beginnend an der Grenze zu Serbien, verweigert sich Ungarn in der Praxis einer europäischen Lösung.

Obwohl es auch in der ungarischen Gesellschaft kritische Stimmen dazu gibt, kommt Orban mit seinem nationalistischen Kurs bei vielen seiner Landsleute an. Das starre Beharren auf eigenstaatlichen Interessen vereint die Visegrad-Staaten.

Das hat historische Gründe. Vor 25 Jahren eröffnete sich nach Jahrzehnten sowjetischer Vorherrschaft für diese Länder die Möglichkeit eines unabhängigen Entwicklungsweges. Außerdem gibt es – sieht man von den Roma-Minderheiten ab – eine große Homogenität der jeweiligen Bevölkerung. Der Ausländeranteil ist nur gering.

Westeuropa hat hier ganz andere Erfahrung, die auf jahrzehntelanger Zuwanderung beruhen. Hinzu kommt ein bedeutend höherer Wohlstand. Diese Basis erleichtert die Entwicklung eines europäisches Gemeinschaftsgefühls.

Das Zerwürfnis schafft neue Schranken in Europa. Wenn diese dauerhaft unten bleiben, bleibt es nicht bei verschiedenen Geschwindigkeiten in der EU. Dann ist der Zerfall programmiert.