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Taliban-Terror Die andere Flüchtlingskrise

Pakistan möchte 2,5 Millionen Afghanen wieder loswerden. Die Flüchtlinge möchten am liebsten nach Europa.

29.07.2016, 23:01

Islamabad (dpa) l Der alte Mann sitzt ganz still, seine Hände kneten den Stoff des abgetragenen Hemdes. „Nun verliere ich zum zweiten Mal ein Heimatland“, sagt er. Abdul Habib, Mitte 60, wartet in einem Rückkehrerzentrum der Vereinten Nationen in Peshawar, Pakistan, auf seine Papiere. In ein paar Stunden wird der Flüchtling über die Grenze von Pakistan nach Afghanistan geleitet – in ein Land, das er Heimat nicht mehr nennen mag, seit er es vor 35 Jahren auf der Flucht vor Krieg und Bürgerkrieg verlassen hat.

Abdul Habib wollte nicht weg aus Pakistan. Aber Pakistan verliert die Geduld mit den afghanischen Flüchtlingen im Land. Jahrzehntelang hat es eine der größten Flüchtlingsgemeinden der Welt beherbergt. Rund 1,5 Millionen Afghanen sind dort als Flüchtlinge registriert, eine geschätzte Million lebt dort ohne Papiere. Viele waren schon in den 1980er Jahren vor Krieg und Bürgerkrieg nach Pakistan geflohen.

Stimmen gegen die Afghanen im Land haben sich schon seit Jahren gemehrt, vor allem in der armen Nordwest-Provinz Khyber Pakhtunkhwa, wo rund 90 Prozent der Flüchtlinge leben und als Bürde für die Wirtschaft wahrgenommen werden. Je nach Stand der achterbahnartigen Beziehungen mit Afghanistan hat Pakistan auch immer mal wieder mit der Abschiebung aller Afghanen gedroht.

Aber nach einem der bösartigsten Anschläge in der Geschichte des Landes – bei dem im Dezember 2014 in einer Armeeschule mehr als 130 Kinder getötet wurden – tauchte plötzlich die Abschiebung aller Afghanen im Nationalen Aktionsplan gegen den Terrorismus auf. Es war ein Anschlag pakistanischer Taliban, und die UN und Menschenrechtler warnten davor, die afghanischen Flüchtlinge zum Sündenbock zu machen. Aber dass Flüchtlinge ein Sicherheitsrisiko darstellen, ist nun fast jeden Tag in pakistanischen Zeitungen nachzulesen.

Viele Flüchtlinge berichten nun über Repressalien. Der alte Flüchtling Abdul Habib erzählt, dass Polizisten gekommen seien und Geld erpresst hätten. Die UN haben Berichte gesammelt über nächtliche Hausrazzien oder Vermieter, die auf Druck von Behörden Verträge mit Afghanen nicht mehr verlängern durften. Es hat eine Atmosphäre der Angst geschaffen, die Hunderttausende aus Pakistan hinaustreibt.

Nach Zahlen der UN und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind seit Anfang 2015 knapp 240 000 Afghanen in ihre Heimat zurückgekehrt. „Tendenz steigend, vor allem seit Juli“, sagt Mio Sato von IOM. Sie führt das auf vermehrte Drohungen gegen Afghanen zurück. Bei den UN heißt es, es liege an der Erhöhung des Rückkehrergeldes für registrierte Flüchtlinge von 200 auf 400 Dollar pro Person.

Einige der Familienoberhäupter im Rückkehrerzen-trum in Peshawar erzählen, dass sie planen, dieses Geld in die Flucht eines ihrer jungen Männer nach Europa zu investieren. „Ich glaube nicht, dass wir in Afghanistan bleiben werden“, sagt auch Abdul Habib. „Krieg, keine Arbeit – wie sollen wir da überleben? In Kabul gibt es viele Leute, die uns den Weg nach Europa zeigen können.“ Er zeigt auf einen 20-jährigen Enkel. „Er spricht Englisch. Er geht zuerst.“

Pakistan hat gerade die Aufenthaltserlaubnis der Flüchtlinge bis Jahresende verlängert. Die Zentralregierung betont, sie setze auf freiwillige Rückkehr, aber ihre Sicherheitskräfte scheinen sich selbständig zu machen. Ihre Drohgebärden gehen weiter. Nun ist die Sorge da vor einer Rückwärtsbewegung von weiteren Zehntausenden afghanischer Flüchtlinge. Die, sagen Experten, würde nicht nur in Afghanistan eine Sicherheits- und eine soziale Krise auslösen, sondern könnte sich teilweise bis nach Europa fortsetzen. Schon im Frühjahr waren bis zu 20 Prozent der afghanischen Flüchtlinge in Europa aus den Flüchtlingslagern Pakistans und des Iran gekommen.

Auch deshalb war Ende Juni der Chef des UN-Flüchtlingswerks, Filippo Grandi, zu Besuch gekommen. „Klar, was in Europa geschieht, hat wieder mehr Aufmerksamkeit auf Pakistan gelenkt“, sagte er. Die Welt habe die Situation zu lange ignoriert. „Wir müssen den Gastgeberländern helfen.“

Woher das Geld kommen soll, das Pakistan geneigt machen könnte, seine 2,5 Millionen Afghanen länger zu behalten, ist ungewiss. Von zwei Milliarden Dollar ist die Rede.