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Studie Ehen halten in Deutschland wieder länger

Nie war eine Scheidung so einfach wie heute. Trotzdem entschließen sich weniger Menschen in Deutschland zu diesem Schritt.

11.07.2017, 23:01

Wiesbaden (dpa) l Männer haben bei einer Ehescheidung ihren 45. Geburtstag schon hinter sich und Frauen längst den 40. gefeiert: Das gilt in Deutschland dem Statistischen Bundesamtes zufolge 2016 jedenfalls im Durchschnitt. Die Scheidungszahlen sinken weiter leicht, das Alter steigt. Diese anhaltende Phase drückt nach Einschätzung von Trendforscher Harry Gatterer "das Ende der Individualisierung" und "ein neues Verständnis füreinander" aus. Familientherapeut Achim Haid-Loh hält einen "ganz neuen Typus" für ausschlaggebend: "Es lassen sich immer mehr ältere Ehepaare auch im hohen Alter mit 70 und 80 Jahren noch scheiden." Die meisten Menschen durchlebten im Alter von 50 bis 55 Jahren eine Art Lebenskrise und orientierten sich in manchem neu, sagt Gatterer, der Geschäftsführer des Zukunftsinstituts in Frankfurt und Wien ist. Dazu könne auch ein neuer Partner gehören. "Jedem ist klar, dass er 80 oder 90 Jahre alt werden kann und Zeit hat."

Für den Rückgang der Scheidungszahlen gibt es nach Einschätzung von Evelyn Grünheid vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung noch mehr strukturelle Gründe: Die Zahl der Verheirateten gehe zurück. Zugleich seien unter den Eheleuten deutlich mehr Ältere. So sei der Anteil der 25- bis 35-Jährigen an den Verheirateten von rund 30 Prozent im Jahr 1970 auf gut 9 Prozent im Jahr 2015 gesunken. Ältere ließen sich zwar nicht so schnell scheiden wie Jüngere. Die Scheidungshäufigkeit bei den Jüngeren sinke jedoch stärker als bei den Älteren, sagt die Forschungsdirektorin aus Wiesbaden.

Das Heiratsalter habe sich auch geändert: "Wer jetzt heiratet, macht es später und bewusster als früher." Trotzdem: "Das partnerschaftliche Ideal von Beziehung auf Augenhöhe, bei der man sich die Kinderzerziehung, den Haushalt und die Berufstätigkeit teilt, zerbirst an der Realität des Arbeitsmarktes und den Schwierigkeiten der Kinderbetreuung", berichtet Haid-Loh vom Evangelischen Zentralinstitut für Familienberatung in Berlin. Diese asymmetrische Aufteilung von Kinderbetreuung und Erwerbsarbeit führe zu Verwerfungen, Enttäuschungen, Stress und Trennung. Andere blieben zusammen, höhlten ihre Partnerschaft und Sexualität aber soweit aus, dass sie sich trennten, wenn die Kinder aus dem Haus seien.

Der Bielefelder Paartherapeut Detlef Vetter berichtet: "Fremdgehen ist immer noch ein großes Thema." Neu sei "virtuelles Fremdgehen": Für den Umgang mit Internetpornografie und Erotik-Chats hätten Paare noch keine Regeln. Dazu kämen die Belastungen der Arbeitswelt: Viele betrachteten die Beziehung als Rückzugsraum. "Beide wollen sich entlasten." Dies führe oft zu dem gegenseitigen Vorwurf: "Ich investiere in die Beziehung, und du nimmst nur raus!" Soziologe Michael Wagner von der Universität Köln betont: "Das soziale Problem ist nicht die Scheidung, sondern die Kinder, die darunter leiden." Fast 132.000 waren 2016 betroffen. Haben sie Nachteile? "Viele Befunde sprechen dafür, dass Scheidungskinder ein etwas höheres Risiko für Bildungsnachteile und Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit haben", sagt Forschungsdirektorin Sabine Walper vom Deutschen Jugendinstitut in München. "Das trifft jedoch keineswegs alle Scheidungskinder, sondern ist davon abhängig, welche Probleme durch die Trennung der Eltern entstehen oder ihr schon voraus gegangen sind."

Zeit spiele auch eine Rolle. "In der Regel brauchen Scheidungsfamilien rund zwei Jahre, um tragfähige Regelungen zu treffen, neue Routinen im Alltag aufzubauen und die emotionalen Belastungen zu verarbeiten", sagt Walper. In dieser Zeit gehe es den Kindern zumeist deutlich schlechter. Allerdings: "Für Kinder und Jugendliche mit sehr zerstrittenen Eltern ist es langfristig meist günstiger, wenn sich die Eltern trennten, als wenn diese zusammenblieben – es sei denn, der Streit geht auch nach der Trennung unvermindert weiter." Soziologe Wagner fordert, ein "stilvolles Scheidungsritual" zu entwickeln, "um es den Ex-Partnern leichter zu machen, Kränkungen, Wut und Trauer besser zu bewältigen". So könne der Kontakt als Eltern erhalten bleiben. Als Beispiel nennt er ein Treffen von Verwandten und Freunden nach der Scheidung, ähnlich wie bei einer Beerdigung – wobei es nach der Scheidung "nicht unbedingt traurig zugehen muss".