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Finanzwelt Null Komma nichts

Verblüffung und Entsetzen in der Finanzwelt: Die Europäische Zentralbank (EZB) hat völlig überraschend den Leitzins auf 0,0 Prozent gesenkt.

Von Jörn Bender 10.03.2016, 23:01

Frankfurt/Main (dpa) l Mario Draghi wirkt müde. Gerade hat er ein gewaltiges Anti-Krisen-Paket gegen Widerstände durch den EZB-Rat geboxt – mal wieder. Der Umfang der Maßnahmen stellt selbst kühnste Erwartungen in den Schatten. Einmal mehr zeigt sich Europas oberster Währungshüter entschlossen, der Mini-Inflation mit aller Macht die Stirn zu bieten. „Wir werden nicht vor der niedrigen Inflation kapitulieren“, betont der EZB-Präsident. Und er lässt keine Zweifel daran aufkommen, dass der Werkzeugkasten der Notenbank noch lange nicht ausgeschöpft ist. Allein: Die Zweifel an der Wirksamkeit der lockeren Geldpolitik – vor allem in Deutschland – kann Draghi nicht zerstreuen. Im Gegenteil.

Noch niedrigerer Leitzins, noch höhere Strafzinsen für Bankeinlagen, noch mehr Milliarden für Anleihenkäufe, noch mehr extrem günstige Langfristigkredite für Geldhäuser – es ist ein nie dagewesenes Paket. Es scheint, als liefere Draghi mit Verspätung das, was die Finanzmärkte schon im Dezember erwartet hatten. Damals reagierten die Märkte enttäuscht, obwohl die EZB sowohl den Strafzins senkte als auch die Laufzeit des Anleihen-Kaufprogramms verlängerte.

Nach der verbalen Aufrüstung im Januar hat Draghi nun geliefert. „Die EZB hat mit der Verkündung ihrer Maßnahmen massiv überrascht und im Prinzip alles auf den Markt geworfen, was sie kann“, kommentierte DZ-Bank-Beobachter Jan Holt- husen. „Mario Draghi möchte den niedrigen Inflationsraten den Garaus machen und packt die geldpolitische Eisenkeule aus“, urteilte die VP Bank.

Das große Bündel an Maßnahmen zeuge „von einer enormen Nervosität seitens der obersten Währungshüter. Denn auch sie müssen sich eingestehen, dass ihre Geldpolitik bislang die Wirkung verfehlt hat“, meint der Chefvolkswirt der Targobank, Otmar Lang.

Die Inflation ist trotz der Geldschwemme meilenweit entfernt vom Zwei-Prozent-Ziel der EZB. Zuletzt sanken die Preise sogar. Viele Ökonomen halten das vor allem für eine Folge der niedrigen Ölpreise und raten zu mehr Gelassenheit. Die EZB male die Konjunkturaussichten „unnötig schwarz“, findet BVR-Chefvolkswirt Andreas Bley: „Die Wirtschaft im Euroraum bleibt auf Erholungskurs. Die aktuelle Inflationspause ist gut für die Konjunktur. Das billige Öl ist ein Kaufkraftverstärker und belebt den Konsum.“ Spätestens 2017 werde die Teuerung wieder anziehen. „Die wirtschaftlichen Risiken werden von EZB überzeichnet“, erklärt Bley.

Dazu kommt: Der Reformeifer in manchem Euro-Krisenland ist erlahmt, weil sich die Regierungen auf das billige Geld aus Frankfurt verlassen. „Der Geldmarkt im Euroraum ist durch die EZB-Politik faktisch stillgelegt. Wirtschaftsreformen sowie die Sanierung von Bankbilanzen werden verschleppt. Doch auf all diesen Feldern hat die EZB heute noch einmal eine Schippe draufgelegt“, kritisiert Michael Kemmer, Hauptgeschäftsführer des Bankenverbandes BdB.

Ob Strafzinsen und ultrabillige Langfristkredite für Banken die Kreditvergabe tatsächlich ankurbeln werden, ist fraglich. Erste Institute denken darüber nach, ob es sich nicht eher lohnt, überschüssiges Geld im eigenen Tresor zu lagern statt es über Nacht bei der EZB zu parken und dafür künftig 0,4 Prozent Zinsen zahlen zu müssen.

Draghi ist sich der Endlichkeit der Maßnahmen durchaus bewusst. Angesprochen auf eine Untergrenze für den negativen Einlagenzins, fragte er rhetorisch: „Heißt das, dass wir so negativ werden können wie wir wollen ohne irgendwelche Folgen für das Bankensystem?“ – und gab die Antwort gleich selbst: „Die Antwort ist: Nein.“ Das heiße aber nicht, dass die Währungshüter mit ihrem Latein am Ende seien: Statt an den Zinsschrauben zu drehen, müsse man künftig noch mehr über unkonventionelle geldpolitische Maßnahmen nachdenken: „Wir haben keine Sorge, dass uns die Munition ausgeht.“