Versicherer Wette auf die Zukunft

Allianz-Vertretern in Sachsen-Anhalt droht der Jobverlust, wenn das Internet-Konzept nicht aufgeht.

19.08.2016, 23:01

Kalbe l Der junge Kai Fischer hatte schwer zu tragen. Vier bis fünf Ordner waren wohl immer dabei, wenn es zum Kunden ging Anfang der Neunzigerjahre. Auch als der erste Beratungscomputer der Allianz auf den Markt kam, musste er kaum weniger schleppen. Ein Koloss, erinnert sich Fischer. Heute ist Kai Fischer 50 Jahre alt und Chef des größten deutschen Versicherers in Sachsen-Anhalt. Seine Aufgabe: Den 467 Allianz-Vertretern im Bundesland die Digitalisierung erklären.

Stefan Wolf klagt nicht über schwere Arme. Schwere Ordner mit hunderten Papierseiten schleppt er längst nicht mehr zu seinen Kunden. Sein Geschäft verlagert sich mehr und mehr ins Internet. „Das persönliche Gespräch geht nicht verloren“, beteuert Wolf, der die Agentur in Kalbe (Milde) im Altmarkkreis Salzwedel vor zwei Jahren übernommen hat. Mehrmals täglich führt er Beratungen über ein Internetprogramm durch und versucht Interessenten von seinen Versicherungsprodukten zu begeistern. Während Wolf am Schreibtisch sitzt, können die Kunden zu Hause bequem im Bademantel auf dem Sofa Platz nehmen. Per Webcam ist Stefan Wolf zu sehen und zu hören. Schöne neue Internet-Welt.

Der Wandel, den sich Deutschlands größter Versicherungskonzern auferlegt hat, findet notgedrungen statt. Große Teile des Geschäftes sind in den vergangenen Jahren ins Internet abgewandert. Vergleichsportale boomen. Ein Beispiel: Check24 verkauft deutschlandweit per Web mehr als 700 000 Autoversicherungsverträge im Jahr – die Allianz-Internettochter Allsecur kommt auf 175 000. Oliver Bäte, seit Mai des vergangenen Jahres Konzernchef, will nicht warten, bis die digitale Konkurrenz das Geschäftsmodell des traditionsreichen Versicherers unter sich begräbt. Die Allianz soll flotter werden, mutig in neue Märkte und Geschäftsfelder vordringen und mitunter auch mal Risiken eingehen. Im Kern will der ehemalige McKinsey-Berater alle Prozesse im Konzern digitalisieren. Insgesamt, glaubt Bäte, werde die Allianz durch die Digitalisierung von den jährlich 13 Milliarden Euro Kosten eine Milliarde einsparen. Bäte muss aber auch die Antworten finden, für seine Vertreter, deren Geschäft es war, jahrzehntelang von Haustür zur Haustür zu tingeln und Versicherungen zu verkaufen. In Sachsen-Anhalt gibt es fast 500 von ihnen.

„Die Vertreter vor Ort sollen für unsere Kunden ein Anker im Prozess der Digitalisierung bleiben“, erklärt Sachsen-Anhalts oberster Allianz-Mitarbeiter, Kai Fischer. Der Versicherer plant, das bestehende Angebot in der Fläche weiter zu pflegen. Weniger Agenturen soll es erstmal nicht geben, sagt Fischer. „Wir bringen unseren Service ins Internet, um die Kunden zu treffen, die dort nach Versicherungsprodukten suchen“, so Fischer weiter.

Vertreter Stefan Wolf ist mit seiner Agentur in der Altmark angekommen in der digitalen Welt. Im sozialen Netzwerk Facebook hat er ein eigenes Profil. 360 Menschen gefällt das. Auf seiner Homepage können per Mausklick Termine vereinbart werden. Auch über den Messengerdienst WhatsApp trudeln mitunter Nachrichten ein. Wenn es die Kunden wünschen, kommt der Vertreter auch gerne vorbei. Vor allem bei komplizierteren Produkten mit höherem Beratungsaufwand suchen die Menschen nach wie vor das persönliche Gespräch, sagt Wolf. Doch wird das so bleiben? Derzeit kann das niemand beantworten. Selbst Kai Fischer bezeichnet das Konzept im Volksstimme-Gespräch als „Versuch“.

Intern wird in der Allianz durchaus darüber gesprochen, dass man bald mit deutlich weniger Vertretern auskommen könnte. Der Versicherer setzt künftig auf flexible, modularisierte und gleichzeitig vereinfachte Produkte, die sich der Kunde selbst im Internet schneidern kann. Schon heute wird bei komplizierteren Beratungen ein Spezialist aus einer Filiale dazugeschaltet. Früher kam der noch persönlich vorbei. In Sachsen-Anhalt hat die Allianz deshalb Anfang des Jahres auch zwei der vier Filialen geschlossen. Ohne Stellen abzubauen, beschwichtigt Kai Fischer. Das Personal wurde in Halle und Magdeburg zusammengezogen. Kunden würden davon nichts mitbekommen. Die Filialen sind bei der Allianz ohnehin nur für die Betreuung der Vertreter zuständig.

Auch in der Konzernzentrale in München ist der digitale Wandel eingezogen. Der Versicherungskonzern hat von den Startups gelernt, die mit ihren Produkten zu Konkurrenten geworden sind. „Wir haben angefangen, die Arbeitsweise der jungen Firmen umzusetzen. Mit agilen Teams gelingt es uns, mit neuen Produkten und Apps schnell marktfähig zu sein“, erklärt Kai Fischer. Die schweren Papierordner haben bei der Allianz endgültig ausgedient.