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Zellstoffwerk Hartes Ringen für den Sonderfall

Das Zellstoffwerk Stendal wird weiter für das Einspeisen von Ökostrom vergütet. Doch was kommt danach?

01.08.2016, 23:01

Arneburg l Mitte Mai kämpft Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff auch um Arbeitsplätze in der Altmark. Der CDU-Politiker streitet auf der Ministerpräsidentenkonferenz mit seinen Kollegen und der Kanzlerin um Details der Neuauflage des Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Die Marschroute ist klar. Mit der Novelle soll das weitere Ansteigen des Strompreises verhindert werden und die Ökostromumlage, die alle Stromkunden zahlen müssen, langfristig sinken. Auch Reiner Haseloff will das so. Doch der Ministerpräsident ringt an diesem Tag um einen Kompromiss.

Denn in Arneburg, nordöstlich von Stendal, steht das größte Biomassekraftwerk Nordeuropas mit einer Leistung von 135 Megawatt. Das Zellstoffwerk stellt hier aus Holzabfällen Strom her. Gut die Hälfte der erzeugten Energie nutzt die Fabrik selbst – zur Produktion von gut 650 000 Tonnen Zellstoff im Jahr. Den Rest speist das Zellstoffwerk in das öffentliche Stromnetz ein. Dafür gibt es bislang Geld, finanziert durch die Ökostromumlage. Doch mit dem EEG-Entwurf, der bei Haseloff auf dem Tisch liegt, drohen Einschnitte: Die Einspeisevergütung von derzeit etwa acht Cent je Kilowattstunde würde für große Anlagen wie das Zellstoffwerk Stendal ab 2017 innerhalb von vier Jahren drastisch sinken. Das Unternehmen mit rund 600 Mitarbeitern käme auch wirtschaftlich in Bedrängnis. Arbeitsplätze stünden auf dem Spiel.

Reiner Haseloff bezeichnet die Gespräche mit seinen Kollegen und der Kanzlerin in einer E-Mail später als „hartes Ringen“. Doch er kann das Schlimmste verhindern. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) sichert Anfang Juli in einem Brief Ausnahmen für den Sonderfall Zellstoffwerk zu. Zehn Jahre wird der eingespeiste Strom noch über die Ökostromumlage gefördert. Jährlich sinken die Einnahmen um acht Prozent. Dem Zellstoffwerk bringen die neuen Regeln wichtige Jahre, um sich auf die Zeit einzustellen, in der Strom aus dem werkseigenen Biomassekraftwerk nicht mehr subventioniert wird.

Der komplette Verlust der Ökostromzahlungen hätte einen Einnahmen-Ausfall von mehr als 20 Millionen Euro bedeutet, bestätigt Wolfram Ridder, Vize-Präsident des amerikanisch-kanadischen Unternehmens Mercer, dem das Zellstoffwerk Stendal gehört. „Wir haben viele Argumente geliefert, die aber erst durch die politische Unterstützung Gehör gefunden haben“, sagt Ridder. Neben Haseloff habe auch die altmärkische SPD-Bundestagsabgeordnete Marina Kermer für das Zellstoffwerk geworben.

Mercer ist einer der größten Hersteller von Zellstoff auf der Welt. An den drei Standorten Arneburg, Blankenstein (Thüringen) und Castlegar (Kanada) werden jedes Jahr gut 1,5 Millionen Tonnen Zellstoff hergestellt. Eine Milliarde Euro Umsatz erzielte der Konzern im vergangenen Jahr, davon 420 Millionen Euro in Arneburg. Die Fabrik ist der größte Standort. Mercer hatte das Zellstoffwerk im Jahr 2004 in Betrieb genommen. Eine Milliarde Euro hat der Bau verschlungen. Rund 250 Millionen Euro gaben das Land Sachsen-Anhalt, der Bund und die EU dazu.

Seitdem haben sich die Bedingungen geändert. Das deutsche Projekt Energiewende hat Mercer einen Strich durch die Rechnung gemacht: Durch den Ökostrom-Boom entstanden Biomassekraftwerke, die Strom und Wärme aus Holz erzeugten, im ganzen Land. Der Preis für Holz stieg dramatisch. Heute ist Mitteleuropa weltweit der teuerste Standort, um den Rohstoff einzukaufen. „Im Nachhinein hätte Mercer unter diesen Voraussetzungen in Deutschland keine Zellstoffproduktion errichten können“, sagt Ridder.

In Arneburg werden jedes Jahr rund drei Millionen Festmeter Holz zu Zellstoff verarbeitet: Die entrindeten Stämme werden zerkleinert und in einer Lauge aus Soda, Natriumsulfiden und Wasser auf 160 Grad Celsius erhitzt. Dadurch trennt sich die Zellstofffaser vom natürlichen Klebstoff des Holzes, dem Lignin: Ungebleichter, leicht bräunlicher Zellstoff ist das Ergebnis. Durch Waschen, Bleichen, Entwässern und Trocknen entsteht der Zellstoff.

Die während des Prozesses entstehende sogenannte Schwarzlauge wird später im Biomasseheizkraftwerk verbrannt und zur Stromerzeugung genutzt. Mit den Einnahmen aus dem Stromverkauf kann das Werk die gestiegenen Holzpreise teilweise auffangen, bestätigt Ridder. Doch was passiert, wenn die Einspeisevergütung wegfällt? Das Zellstoffwerk müsste die Energie dann zum Börsenpreis verkaufen – so wie Atom-, Gas- und Kohlekraftwerke. Doch derzeit liegt der Vergütungssatz mit etwa zwei Cent pro Kilowattstunde im Keller.

„In Zukunft wird es vor allem darum gehen, die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Werks zu halten“, sagt Ministerpräsident Haseloff. Wolfram Ridder und der Geschäftsführer des Zellstoffwerks Stendal, André Listemann, arbeiten an Alternativen. Eine zentrale Rolle spielt dabei Lignin, das heute als Teil der Schwarzlauge größtenteils verbrannt wird. Dabei steckt im harzartigen Biopolymer viel mehr. Auch in Sachsen-Anhalt erforschen Wissenschaftler, wie Lignin als Ersatz für erdölbasierte Produkte verwendet werden kann. Ein mögliches Einsatzgebiet für Lignin ist die Automobilindustrie. In einigen Jahren könnten mit dem Holz-Klebstoff Kunststoffteile für Fahrzeuge gebaut werden. Wolfram Ridder hofft, dass dann für das Zellstoffwerk neue Absatzmärkte entstehen.