TV-Tipp Sanatorium Europa

Die TV-Doku "Sanatorium Europa" will zeigen, wie schwierig es einst war, eine Gesellschaft in unruhigen Zeiten neu aufzustellen - und wie es damit heute aussieht.

Von Klaus Braeuer, dpa 27.06.2017, 23:01

Berlin (dpa) - "Die europäische Idee ist gescheitert" - das ist derzeit fast ständig zu hören und zu lesen. Eine Krise in Europa gibt es bestimmt - um mögliche Parallelen zum Anfang des vergangenen Jahrhunderts geht es in der Doku "Sanatorium Europa", die an diesem Mittwoch (22.00 Uhr) auf Arte zu sehen ist.

Wie haben die beiden Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Hermann Hesse (1877 - 1962) und Thomas Mann (1875 - 1955) auf die Wirren in Europa ab dem Jahr 1900 reagiert? Was kann der Leser aus ihren Werken über die Zeit vor und während des Ersten Weltkrieges erfahren? Die Geschichte des Filmes spielt dort, "wo die Sensiblen sich hinflüchteten, um ihr Unbehagen an der Zeit zu kurieren" - so heißt es zu Beginn der Doku. Also südlich der Alpen, in der reizvollen Seenlandschaft von Oberitalien.

Hier ist die Luft noch rein und das Klima mild - beides ideal zur Beruhigung der blankliegenden Nerven. Außerdem galt eine Kur damals als chic. Überall entstanden moderne Heilanstalten, und so quartierten sich die feinen Herrschaften gleich für Wochen oder gar Monate in einem Sanatorium ein.

In Riva am Gardasee ist die Vegetation mediterran, die großzügigen Palazzi erinnern an die Belle Epoque, als man noch stolz auf Europa war. In einem viel gepriesenen Reformsanatorium erhoffte sich der erschöpfte und von Verdauungsproblemen geplagte Thomas Mann Hilfe, die er auch fand - und die erste Inspiration zu seinem späteren Roman "Zauberberg" (1924). Heute steht die Ruine des Sanatoriums leer, ebenso wie andere ähnliche Häuser.

Hermann Hesse ("Demian", 1919) versuchte seinem allzu engen Zuhause am Bodensee zu entkommen und reiste an den Lago Maggiore, an den Wahrheitsberg (Monte Verita). Im Tessin konnte man damals günstig und unbehelligt leben, hier wollte sich der (alkohol-)kranke Schriftsteller auf eine befreiende Sinnsuche begeben: So lief man nackt umher und pflegte Körper und Geist, um den Widrigkeiten des Alltags besser entgegentreten und ein wahrhaftigeres Leben führen zu können.

Der Philosoph Andreas Weber sagt im Film über die früheren Gäste solcher Refugien: "Das aufstrebende Großbürgertum lebte unter Umständen extremer Disziplin und Kontrolle, vor allem was den Körper anbelangte, und was sich auch in der Mode zeigte." Frauen mussten sich ins Korsett einschnüren lassen, die Männer trugen ihren Kopf vom steifen Vatermörder gehalten aufrecht. "Der Humanismus der Aufklärung hat den Körper schlicht vergessen". Das klingt wohl schlimmer als es damals empfunden wurde. Weber fügt einen guten Gedanken hinzu: "Wir brauchen eine neue Romantik, um uns der effizienten Welt ein wenig entziehen zu können."

Die Autorin des Filmes, Julia Benkert, will eine Brücke schlagen ins Heute - geht es doch stets um die Überforderung der Menschen, die mit ihren Lebensumständen, der Schnelligkeit und den Leistungsanforderungen nicht mehr zurechtkommen. Für Benkert sind Sanatorien ein ebenso symbolischer wie realer Ort, um das Unbehagen an der Zeit zu analysieren. Die Symptome von damals wie das Ausgebranntsein gibt es heute zum Teil heute wieder oder immer noch - Burnout heißt es heute. Ob die im Film gezogenen Parallelen zwischen damals zu heute sich tatsächlich wie die Warnzeichen vor dem nächsten großen Krieg interpretieren lassen, erscheint allerdings recht fraglich.

So verdienstvoll der hübsch präsentierte Film - mit etlichen Buchzitaten, Stellungnahmen von Wissenschaftlern und schönen Bildern - auch sein mag, so taugt er in seiner Beschränkung auf das Literarische und einer damit einhergehenden Verkopftheit nicht dazu, einen erhellenden Beitrag zur aktuellen gesellschaftlichen und vor allem politischen Lage im unruhigen Europa zu leisten. Es fehlen Beispiele heutiger Schriftsteller oder namhafter Intellektueller, deren etwaige Thesen zum Gelingen einer neuen Idee von Europa (jenseits des Populismus) sicher äußerst interessant wären.

Sanatorium Europa