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Kunstsammlung Zeichnung aus Museum verschwunden

Mit der Sammlung Gerlinger verliert das Kunstmuseum Moritzburg die bedeutendste deutsche Privatsammlung mit Kunst der „Brücke“-Maler.

Von Uta Baier 16.11.2016, 23:01

Halle l Hermann Gerlinger war einst der glücklichste Sammler Deutschlands, denn er durfte seine Sammlung mit etwa 1000 expressionistischen Werken der Brücke-Künstler nach Halle, ins Kunstmuseum Moritzburg, geben. Jetzt ist er der unglücklichste, denn eine Zeichnung aus diesem Konvolut ist verschwunden. „Ich bin wütend, traurig und entsetzt“, sagte der Würzburger Sammler der Volksstimme.

Das verschwundene Blatt ist das letzte gezeichnete Selbstporträt Karl Schmidt-Rottluffs (1884–1976). Wie groß der persönliche Verlust für den heute 85-jährigen Hermann Gerlinger sein muss, kann man nur verstehen, wenn man weiß, welche große emotionale Bindung Hermann Gerlinger gerade zu diesem Künstler hatte. Das allererste Bild seiner Sammlung, den Holzschnitt „Melancholie“ von Schmidt-Rottluff, kaufte Gerlinger als Student – und zahlte das Blatt in der Münchner Galerie Günter Francke in Fünf-Mark-Raten ab. Später lernte er den Künstler kennen, der den jungen Sammler sehr schätzte und ihm 1975 sogar das Hochzeitsgeschenk an seine Frau – ein Doppelporträt von 1919 – verkaufte.

Mit all dem hat Halle nun nur noch bis Ende des Jahres zu tun. Dann endet der Dauerleihvertrag zwischen dem Landeskunstmuseum und dem Würzburger Sammler. „Die Auflösung ist einvernehmlich“, sagt Christian Philipsen, Generaldirektor der Stiftung Dome und Schlösser Sachsen-Anhalt, zu dessen Stiftung das Landeskunstmuseum gehört. Er bedauere das, doch es habe seit längerem „unterschiedliche Auffassungen über die Frage, wie die Sammlung Hermann Gerlinger in das Gesamtkonzept der Museumssammlung einzubinden ist“, gegeben. Das Museum habe verstärkt die Gemälde der Sammlung präsentieren wollen, der Sammler habe auf jährlich drei Ausstellungen mit Grafik bestanden. „Eine Präsentation, wie sie Herr Gerlinger wollte, hätte die weitere Entwicklung des Museums behindert“, sagt Philipsen.

Für den Sammler waren diese Unstimmigkeiten nicht entscheidend. „Ich habe das Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Museums nach dem Verschwinden des Kunstwerkes verloren. Das ist der Grund, warum ich den Leihvertrag gekündigt habe“, sagt er. Und erklärt, dass es laut Vertrag auch der einzige Grund ist, der ihn dazu berechtigt. „Ich habe meine Sammlung doch auf Dauer nach Halle gegeben und hätte sie niemals wegen ein paar Meinungsverschiedenheiten über ihre Präsentation kündigen können und wollen“, sagt Gerlinger.

Museum und Sammler wissen bereits seit Ende April von der verschwundenen Zeichnung. „Wir haben daraufhin das gesamte Haus durchsucht und eine Revision der Sammlung vorgenommen. Wir konnten keinen Einbruch, keine Sicherheitslücke feststellen. Aber Fakt ist, das Bild befindet sich nicht in der Moritzburg und auch nicht beim Sammler. Deshalb können wir eine Straftat nicht mehr ausschließen und haben Strafanzeige gegen unbekannt gestellt“, sagt Christian Philipsen.

Fest steht, dass Halle mit der Gerlinger-Sammlung die bedeutendste deutsche Privatsammlung mit Kunst der „Brücke“ verliert. Fest steht weiterhin, dass die Moritzburg ihren kongenial in den Ruinenflügel der ehemaligen Burg eingepassten Erweiterungsbau überhaupt nur wegen der Brücke-Sammlung realisieren konnte. Und fest steht auch, dass die Stadt Halle, deren Besitz an expressionistischer Kunst durch die Nazis stark dezimiert wurde, nicht nur wichtige Gemälde und Grafiken von Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Ernst-Ludwig Kirchner, Max Pechstein und Fritz Bleyl verliert, sondern auch Ergänzungen zu eigenen Werken. So kamen mit Gerlingers Kunst beispielsweise Radierungen von Ernst Heckel ins Museum, die als direkte Vorstudien zu den beiden Hallenser Heckel-Bildern „Die Barbierstube“ und „Die Lesenden“ gelten. Das würdigten Stadt und Land: 2009 ernannte Halle den Sammler und seine Frau zu Ehrenbürgern. 2012 erhielten sie den Verdienstorden des Landes Sachsen-Anhalt.

Nach Ansicht von Museumsdirektor Thomas Bauer-Friedrich werde ab 2017 trotzdem „keine große Lücke im Museum klaffen“, denn die eigene Sammlung sei stark und vielfältig. Vor allem das selten gezeigte Kunsthandwerk werde demnächst wieder präsentiert.

In den nächsten Wochen wird Hermann Gerlinger entscheiden, wohin seine Sammlung zieht. „Ich bin nach allen Seiten offen“, sagt der Sammler. In seiner Heimatstadt Würzburg geht Oberbürgermeister Christian Schuchardt auf Volksstimme-Anfrage davon aus, „dass sich durch ein Einlenken in Sachsen-Anhalt womöglich wieder eine geänderte Situation ergibt.“

Verhandlungen mit Würzburg gab es schon einmal 1995. Damals hatte die Stadt keine geeigneten Ausstellungsflächen. Jetzt sagt Würzburgs Oberbürgermeister: „Professor Gerlinger wird an uns herantreten, wenn er seine Sammlung in seiner Heimatstadt zeigen möchte.“