1. Startseite
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Buch
  6. >
  7. Der Preis für ein Romanprojekt

Belletristik Der Preis für ein Romanprojekt

Der letzte Band von Karl Ove Knausgårds autobiografischer Reihe ist jetzt in Deutschland erschienen.

Von Alexandra Stahl 01.06.2017, 23:01

Berlin (dpa) l Karl Ove Knausgård (48) kennt in Skandinavien ungefähr jeder. Die Menschen wissen, dass er sich oft ein wenig unwohl fühlt, wenn er seine Kinder nach dem Baden abtrocknet und dass seine Ehefrau eine bipolare Störung hat. Sie wissen, dass Knausgård manchmal so viel trinkt, bis er alles vergisst, und sie wissen, dass sein Vater sich zu Tode getrunken hat. Außerhalb von Skandinavien wissen das auch ziemlich viele Menschen - Knausgårds autobiografisches Romanprojekt von sechs Bänden, in denen er all das aufgeschrieben hat, wurde in rund 30 Sprachen übersetzt. Nun ist in Deutschland der letzte Band erschienen. „Kämpfen“ zeigt, was die Veröffentlichung mit dem Norweger und seiner Familie gemacht hat.

Knausgård schreibt sein Leben auf – und zwar radikal. Alle Menschen, mit denen er zu tun hatte, tauchen mit ihren richtigen Namen auf, jeder, um den es geht, soll das Werk vor der Veröffentlichung lesen. An diesem Punkt beginnt „Kämpfen“. Den ersten Band, der den Tod seines Vaters behandelt, hat er gerade den Menschen geschickt, die er betrifft. Nun hat Knausgård Angst. Wie fallen die Reaktionen aus? Sein Bruder Yngve reagiert gut, sein Onkel Gunnar rastet aus. Er beschimpft den Neffen aufs Übelste, droht mit Klage.

Zur Erinnerung: Knausgård hat wirklich alles aufgeschrieben. In „Sterben“ beschreibt er das Verhältnis zu seinem Vater bis zu dessen Alkoholtod und wie er schon als Kind unter dessen Launen litt. „Lieben“, der zweite Band, widmet sich dem ganzen Wahnsinn eines Alltags, das ein Paar mit kleinen Kindern hat und der intensiven Beziehung zu seiner zweiten Ehefrau Linda. „Spielen“ und „Leben“, Band 3 und 4, zeichnen Knausgårds Kindheit und Jugend nach. „Träumen“ schließlich handelt von seiner Zeit in Bergen, wo er sich als junger Schriftsteller versucht und seine erste Ehe schließt.

„Kämpfen“ nun ist eine Reflektion von mehr als 1200 Seiten, in denen Knausgård zwischen verschiedenen Zeitpunkten wechselt. Während er beschreibt, wie er 2011 die letzten Seiten jenes Bandes schreibt, blickt er zurück auf das Jahr 2009, in dem die Veröffentlichung seiner Bücher begann, beschreibt, wie schwierig für ihn der Konflikt mit dem Onkel war, wie der Familienalltag irgendwie weiterging, wie seine Ehe auf eine Krise zusteuerte. Denn er schreibt natürlich auch das auf, was sich Knausgård-Leser wohl seit dem zweiten Band „Lieben“ fragen: Wie ging Linda Boström Knausgård mit diesem Buch um?

Knausgård schreibt: „Es schmerzt, wenn keine Rücksicht genommen wird, und es schmerzt, keine Rücksicht zu nehmen. Dieser Roman hat allen in meiner Umgebung wehgetan, und er hat mir wehgetan, und in einigen Jahren, wenn sie groß genug sind, um ihn zu lesen, wird er meinen Kindern wehtun.“ Aber warum hat er es dann getan? Er gibt schließlich eine entwaffnend ehrliche Antwort.

„Die Wahrheit war, dass ich nichts zu verlieren hatte, als ich mich hinsetzte, um den Roman zu schreiben. Deshalb schrieb ich ihn. Ich war nicht nur frustriert, wie man es werden kann, wenn man ein Elternleben mit Kleinkindern führt, viele Pflichten hat und sich selbst aufgeben muss, ich war unglücklich, so unglücklich, wie ich es nie zuvor im Leben gewesen war, und ich war ganz allein.“

„Kämpfen“, das in drei Teile gegliedert ist, ist ein anstrengendes Buch, weil man so unmittelbar an Knausgårds Kampf teilhat. Der 48-Jährige leidet an seiner plötzlichen Berühmtheit und genauso leidet er im Privaten. Er ist sensibel und konfliktscheu, macht sich zu allem alle möglichen Gedanken.

Im mittleren Teil des Buches wird es essayistisch. „Min Kamp“ heißt die Romanreihe im Norwegischen, auf deutsch: Mein Kampf. Genau jenen, Hitlers „Mein Kampf“, liest Knausgård daher auch und schlägt einen weiten Bogen von Literatur zu Politik. Das liest sich stellenweise wie ein Geschichtsseminar und ist vermutlich nicht das, was viele Leser erwarten.

Die stärksten Passagen schafft er diesmal, wenn es um seine Frau Linda geht. Berührend beschreibt er ihre manisch-depressiven Episoden und wie er versucht, die Familie zusammenzuhalten, als seine Frau in eine Klinik kommt.

Muss man den Menschen so eine Zur-Schau-Stellung zumuten? Nein, muss man nicht. Genau das ist es aber, was Knausgårds Projekt wohl so erfolgreich gemacht hat. Dass er weiter ging als die meisten anderen Schriftsteller. Dass er über Menschen schrieb, die es gab oder gibt. Dass er aus der Banalität des Alltags Literatur gemacht hat.

Karl Ove Knausgård: „Kämpfen“. Luchterhand, 1280 Seiten, 29 Euro