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Marke und Mythos: Wem gehört Anne Frank?

11.06.2014, 10:04

Amsterdam - Täglich stehen lange Schlangen vor dem Anne Frank Haus in Amsterdam. Die Menschen warten oft stundenlang, bei Regen, Schnee oder bei Hitze. Alle wollen sie nur eines: die schmale Stiege hinaufklettern zu den kleinen dunklen Kämmerchen, in denen Anne Frank gut zwei Jahre versteckt vor den deutschen Nazis lebte und ihr weltberühmtes Tagebuch schrieb.

Am Donnerstag (12. Juni) wäre das jüdische Mädchen 85 Jahre alt geworden. Anne Franks Popularität ist ungebrochen.

Das Hinterhaus an der Prinsengracht ist eine Pilgerstätte. Aus aller Welt kommen jährlich mehr als eine Million Besucher: Mönche aus Tibet, Schulkinder aus Rom oder auch Deutsche, deren Eltern Nazis waren. Für alle ist das Mädchen, das im Alter von 15 Jahren im Konzentrationslager Bergen-Belsen starb, ein Symbol der Hoffnung und Humanität in Zeiten von Barbarei. Anne Frank sei zur Heiligen geworden, schrieb der niederländisch-amerikanische Publizist Ian Buruma. "Eine jüdische St. Ursula, eine niederländische Jeanne d\'Arc, ein weiblicher Christus."

Anne ist das bekannteste Opfer des Holocausts und wurde zu seinem Symbol. Sie war eine talentierte Schriftstellerin, sagt der niederländische Autor Leon de Winter. "Sonst hätte ihr Tagebuch nicht überlebt."

Der Mythos hat einen Preis. Der Amsterdamer Historiker Bart Wallet warnt vor einem Anne-Frank-Tourismus. "Es ist ein Wunder, dass es in Amsterdam noch keine T-Shirts oder Kaffeebecher mit ihrem Bild gibt."

Popstars, Könige, Fußballer verewigen sich gerührt im Gästebuch des Hinterhauses. Als der alte kranke Kastanienbaum im Garten gefällt werden sollte, gab es weltweit Empörung. Ableger der Kastanie, die schließlich von einem Sturm umgerissen wurde, werden nun weltweit wie kostbare Reliquien gepflanzt - zuletzt im Garten des Kongresses in Washington.

Die Gefahr der Vermarktung des Symbols ist groß. 70 Jahre nach Annes Tod laufen 2015 die Urheberrechte an den Tagebüchern aus. Dann darf jeder frei daraus zitieren.

Zwei Organisationen wachen darüber, dass Anne Frank nicht für kommerzielle Zwecke missbraucht wird. Gleichzeitig wollen sie, dass Annes Botschaft auf respektvolle Weise an kommende Generationen weitergegeben wird. Doch ihr Bemühen führte zu einem bizarren Machtkampf: Wem gehört Anne?

Der Anne Frank Fonds in Basel verwaltet das Erbe von Annes Vater Otto, der als einziger der Familie die Konzentrationslager überlebt hatte. Der Fonds besitzt auch die Rechte an dem Tagebuch. Demgegenüber steht die Anne Frank Stiftung, die das Amsterdamer Hinterhaus verwaltet und auch Annes rot-kariertes Tagebuch ausstellen darf.

Der Basler Fonds vergab exklusiv die Filmrechte. Das ZDF ließ nach einem Konflikt mit den Erben die Pläne für einen Film über das jüdische Mädchen im kommenden Jahr fallen. In einem langen Rechtsstreit forderten die Erben auch von der Amsterdamer Stiftung erfolgreich Dokumente aus dem Nachlass von Otto Frank zurück. Sie sollen in einem neuen Zentrum in Frankfurt am Main ausgestellt werden, wo Anne 1929 geboren wurde.

Jüngster Höhepunkt des Gezerres war das Theaterstück "Anne", das im Mai in Amsterdam uraufgeführt wurde. Es soll weltweit gezeigt werden. Der Basler Fonds hatte dazu dem Schriftstellerehepaar Leon de Winter und Jessica Durlacher den Auftrag erteilt. Erstmals brachten sie die Texte Annes auf die Bühne. Eine private Produktionsgesellschaft ließ dafür ein Theater bauen.

Die Multimedia-Produktion war aber für das andere Lager bereits reiner Kommerz. Zuschauer könnten in der Pause mit Prosecco die Tränen über das tragische Schicksal des Mädchens wegspülen, klagten sie. Das renommierte NRC Handelsblad machte die Produktion auf der Titelseite nieder und begründete den Verriss: "Schön, dass wir uns nicht von der PR-Maschine eines Kassenknüllers haben beeindrucken lassen." Auch die Anne Frank Stiftung wetterte gegen die Vermarktung. "Es wird auf den Markt gebracht als geselliger Abend mit Snack-Box", klagten die Hüter des Museums.

Doch gerade auf der Bühne zeigte sich die Stärke des Tagebuchs. In fast lebensgroßen Kulissen und aufwendiger Multimediashow wurde das Mädchen Anne Frank durch seine Texte selbst wieder lebendig: Eigensinnig, nervig, sprühend, nachdenklich. Ein Teenager mit vielen Talenten, einem großen Mund und unerfüllten Träumen.