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"Spracharbeiter" Wulf Kirsten wird 80

19.06.2014, 10:38

Weimar - "Ich bin ein Spracharbeiter", sagt der Weimarer Autor und Herausgeber Wulf Kirsten von sich. "Und ich habe nicht die Absicht, den Lesern das zu sagen, was sie schon wissen."

Wer mit ihm über diese Schwelle ins Unbekannte geht, dem öffnet sich in prägnanten Wortschöpfungen und feinen Nuancierungen eine Welt voller Poesie, Widersprüche und verborgener Wirklichkeiten. "Ich bin kein ausgesprochen politischer Autor", bekennt er. Doch durch die Brille des Sprachkritikers setzt sich der Sohn eines sächsischen Steinmetzes damals wie heute mit dem Nationalsozialismus auseinander, den er als Kind miterlebt hat, mit Erstarrungen in der DDR und mit enttäuschten Hoffnungen im wiedervereinten Deutschland.

"Alles was ich schreibe, ist biografisch geprägt und von den Menschen um mich herum", sagt der ehemalige Deutschlehrer und Lektor beim Aufbau Verlag Weimar. Am Samstag (21. Juni) wird er 80 Jahre alt. Das Land Thüringen und die Stadt Weimar ehren ihn mit einer Feier im Stadtschloss. Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) würdigt ihn als "unermüdlichen, ideenreichen Arbeiter im Weinberg literarischen Schaffens." Seine Gedichte seien auch Mahnung, mit der Schöpfung würdevoll umzugehen.

In der DDR galt er als große Hoffnung der DDR-Lyrik und als "Landschafter". Gegen den "Naturdichter" habe er immer versucht anzulaufen. "Natur ist nur ein Segment, ein Aspekt, eine Facette." Landschaft sei für ihn nur interessant, wenn er sie mit sozialen Strukturen, ökologischen Problemen, mit Geschichte verbinden könne. Gedichtbände wie "Stimmenschotter" (1993) und "Wettersturz" (1999) zeigen dies mit großem Sprachvermögen und Experimentierfreude.

Er sei in der DDR nicht sonderlich gefördert, aber im Vergleich zu anderen Autoren wegen Kritik an Umweltzerstörungen auch nicht belangt worden, meint er. "Als ob diese Kritik der DDR geschadet hätte, das hat die Stasi, und nicht nur sie, viel mehr getan." 1987 wird ihm der renommierte Peter-Huchel-Preis verliehen. Viele Auszeichnungen und Stadtschreiber-Ämter folgen nach 1990 und machen den Lyriker deutschlandweit bekannt.

1989 engagiert er sich mit großen Hoffnungen für Demokratie in der Bürgerbewegung. Resigniert wendet er sich nach der ersten Wahl ab. Die in sich gespaltene und schwache Bürgerbewegung habe viele Fehler gemacht und sich - wie er auch - zu sehr auf die Stasi konzentriert.

Verkrustete Strukturen in Bürokratie und Politik in der EU oder in Weimar regen ihn bis heute auf. "Schwer, diese aufzubrechen." Und er sieht die Gefahr, dass sich Menschen wieder in Nischen zurückziehen. "Verloren gegangenes Vertrauen gewinnt man nicht zurück", mahnt er. So mischt er sich immer mal wieder ein, obwohl Arzt, Familie, Alter und Herz etwas anderes raten.

"Ich bin Zeitzeuge und ein Auslaufmodell sowieso", konstatiert Kirsten. "Die bäuerliche Welt, aus der ich kam, ist untergegangen." Der Rechtsextremismus nicht. Das erklärt seine Auseinandersetzung in Buchprojekten mit dem früheren NS-Konzentrationslager Buchenwald oberhalb der Klassikerstadt. "Ich sehe den Berg von meinem Fenster. Bis heute ist es für die meisten Weimarer ein gemiedener Ort."

Und er bekennt: "Ich habe mich anfangs Weimar verweigert, wollte kein Weimarer Schriftsteller werden." Dann habe ihn die Stadt nicht losgelassen. "Ein Glücksfall." Denn er wollte nichts anderes sein als Lektor und Herausgeber - und vor allem Lyriker.

Was er nach dem 80. Geburtstag vorhabe? Themen in Hülle und Fülle, große Texte wohl eher nicht. Ein Stück über Kafka in Weimar und über den elterlichen Bücherschrank, sagt Kirsten und zeigt vor den Bücherwänden auf einen kleinen Bücherstapel. "Im Alter kehrt die Kindheit noch einmal zurück, die einen geprägt hat."