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Hans Magnus Enzensberger befragt sich selbst

14.10.2014, 09:40

Berlin - Hans Magnus Enzensberger ist bald 85 Jahre alt. Da fällt der Blick fast unvermeidlich zurück: "Tumult" heißt das neue Buch des Schriftstellers und Intellektuellen, das rechtzeitig vor dem Geburtstag am 11. November erscheint.

Es widmet sich vor allem den 60er Jahren, die für Enzensberger prägend waren, genau wie für die gesellschaftliche Modernisierung der Bundesrepublik. "Tumult" ist deshalb eine ausgesprochen anregende Lektüre und liest sich auch wegen Enzensbergers Vorliebe für klare Sprache so angenehm: keine Bandwurmsätze, keine Phrasen, keine Schnörkel.

Enzensberger gehört zu den wenigen polyglotten Kosmopoliten unter den deutschen Schriftstellern der Nachkriegszeit. Schon im Studium zog es ihn nach Paris, bald danach in die USA, später lebte er in Norwegen, in Rom und auf Kuba. 1963 erhielt er erstmals eine Einladung in die Sowjetunion, zu einem Schriftstellerkongress in Leningrad. Die Aufzeichnungen über seine Erlebnisse damals sind das Eingangskapitel des neuen Buches. Sie zeigen bereits, was für Enzensberger typisch wurde: Zwar hofierte man den Schriftsteller, brachte ihn im besten Hotel der Stadt unter, aber vereinnahmen ließ er sich nicht.

Sein Verhältnis zu Ideologien blieb immer distanziert. Den Kongress erlebte er als langatmig, genau wie die Bankette mit endlosen Trinksprüchen und bis zum Rand gefüllten Wodkagläsern. Auffallend damals schon: Enzensberger hat eine bemerkenswerte Fähigkeit, scheinbar zufällig mit Persönlichkeiten der Zeitgeschichte zusammenzutreffen, mit Prinz Sihanouk aus Kambodscha genauso wie mit dem Dichter Pablo Neruda, dem Soziologen Herbert Marcuse oder der Literatur-Nobelpreisträgerin Nelly Sachs, mit der er lange befreundet war.

1963 plauderte er erst nichtsahnend mit Nikita Chruschtschows Schwiegersohn und besuchte den sowjetischen Regierungschef als Mitglied der Schriftstellerdelegation anschließend auch selbst. Nur drei Jahre später hatte Enzensberger Gelegenheit, fast einen Monat lang durch die Sowjetunion zu reisen. Auch diesmal hat er seine Erlebnisse notiert, von der Ankunft in Moskau, über seine Teilnahme am Friedenskongress in Baku, wo die "professionellen Friedensschwätzer" lange Reden hielten, bis zum Besuch in Taschkent, Samarkand, Alma Ata und Irkutsk.

Wenn das Ziel war, Enzensberger zu beeindrucken, hat das nicht geklappt: Die "Monotonie der Plattenbauten" fand er deprimierend, manche Städte "grau, leblos, schmutzig und mürrisch". Selbst die Rückfahrt von Nowosibirsk mit der Transsibirischen Eisenbahn erlebte er "eintöniger als der Mythos, der auf dieser Strecke irgendwelche Abenteuer verspricht".

Was bei diesen frühen Aufzeichnungen angenehm auffällt, setzt sich bei Enzensberger fort: Eitelkeit und Selbstverliebtheit haben in seinen Texten keinen Platz. Dafür stellt sich der Autor zu sehr selbst infrage. "Tumult" ist eine Spurensuche in eigener Sache, nachdem Enzensberger in einer Pappschachtel im Keller vergessene Briefe, Notizbücher und Fotos von damals gefunden hat. Und das gilt auch und gerade für die Passagen, die den Jahren 1967 bis 1970 gewidmet sind. Der alte Enzensberger befragt darin gewissermaßen den jungen - nach dem Motto: "Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?"

Enzensberger war kein Vorkämpfer der Studentenbewegung - das war gar nicht seine Generation. Aber er war doch dicht dran, an der APO und auch an der Kommune 1 zum Beispiel, die sich 1967 gegründet hatte und dann kurzzeitig in sein Haus in Berlin-Friedenau zog, während er in Rom war. "Mach doch mit!", schlugen ihm die Kommunarden vor. "Nichts konnte mir ferner liegen", schreibt Enzensberger. Dafür zogen sein jüngster Bruder Ulrich und seine erste Ehefrau Dagrun in der Kommune ein.

Zu den interessantesten Passagen gehört Enzensbergers Nachdenken über die RAF. Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof kamen mit Andreas Baader im Mai 1970 nach dessen Flucht aus dem Gefängnis zu Enzensberger in der Hoffnung, er könne sie verstecken. Dessen Wohnung in Friedenau wurde allerdings von der Polizei überwacht. Der Plan war also denkbar schlecht. "Ich schließe daraus, dass die RAF aus Versehen entstanden ist", schreibt Enzensberger. "Kein Gedanke an eine politische Überlegung oder an eine Strategie."

Die ideologischen Gründe für konspirative Wohnungen und Banküberfälle seien erst anschließend erfunden worden. Die RAF erschien ihm als "Gespensterarmee" und Andreas Baader als "abscheulich". Das Abgleiten in den Terrorismus sah er als Irrweg, mit dem er nichts zu tun haben wollte. Auch da blieb sich Enzensberger in seinem Selbstverständnis als linker Intellektueller treu, der vor allem einem verpflichtet war: der Skepsis.

- Hans Magnus Enzensberger: Tumult. Suhrkamp Verlag, Berlin, 285 S., 21,95 Euro, ISBN 978-3-518-42464-3.