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Sahra Wagenknecht interpretiert den "Faust"

24.02.2015, 14:46

Wolfsburg - Das Ritz-Carlton in Wolfsburg ist eine edle Adresse: Das Fünf-Sterne-Hotel wartet mit beheiztem Außenpool und Dreisterneküche auf.

Der Wagen wird dem Gast in die Garage gefahren, Angestellte geleiten einen durchs Hotel. Es ist nicht unbedingt ein Ort, an dem man Kapitalismuskritik erwartet.

In der Einladung ist von einem "geistreichen Abend mit außergewöhnlichen Erkenntnissen" die Rede. Die Hauptperson, Sahra Wagenknecht, sitzt am Montagabend in einem kleinen Wintergarten, ein Kamin lodert, draußen ist es schon dunkel. Das Thema, über das die Linkenpolitikerin sprechen will: Parallelen zwischen Szenen aus Goethes "Faust" und heutigen Eskapaden des Kapitalismus und der Finanzkrise.

Sahra Wagenknecht findet da eine ganze Menge, zum Beispiel in der sogenannten Kaiserpfalzszene in "Faust II". Mephisto wirbt für frisches Papiergeld und verspricht dem Kaiser schnellen und einfachen Reichtum. Wagenknecht erinnert das an die lockere Geldpolitik des Chefs der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi. "Im Grunde taucht der Draghi da in Person des Mephisto auf."

Die Sache mit dem zusätzlichen Papiergeld geht bei Goethe schief. Wagenknecht sieht sich bestätigt. "Wir sind heute, 200 Jahre später, nicht viel schlauer." Das Publikum, vornehmlich ältere Herrschaften, grummelt von Zeit zu Zeit Zustimmung. "So ist es", flüstert ein Mann seiner Begleiterin ins Ohr.

Wagenknecht ist ganz in Rot gekommen. Sie gibt die Gelehrte, zitiert Nietzsche und Verse aus dem Faust. Sie sagt Sätze wie: "Im Grunde hat er ja Jahrhunderte vorweg gegriffen mit seiner Kritik." Fausts Monolog kurz vor seinem Tod hält sie für eine Art Plädoyer für eine mitdenkende Arbeiterklasse.

Ein solcher Umgang mit Literatur ist durchaus umstritten. "Sie vergewaltigt Goethe", sagt der Politologe und Literaturwissenschaftler Günther Rüther. Er hat das Buch "Literatur und Politik. Ein deutsches Verhängnis?" geschrieben und arbeitete für die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung.

Er wirft Wagenknecht den "plumpen Versuch" vor, "Faust" mit einem bestimmten politischen Ziel zu interpretieren. Politik versuche allzu häufig, sich der Schriftsteller zu bemächtigen. "Das hat es in den vergangenen zwei Jahrhunderten immer wieder gegeben", sagt Rüther. Viele Schriftsteller hätten versucht, sich dem zu entziehen.

Wagenknecht bewundert Goethes Fähigkeiten, die negativen Auswirkungen des Kapitalismus angeblich vorauszuahnen. Sie verweist auf die Vertreibung und Tötung des greisen Paares Philemon und Baucis, die den Geschäften von Faust im Wege stehen. Daraus leitet sie ab: "Der Drang zur Expansion schlägt sich in Verbrechen nieder."

Rüther lehnt solche Zuschreibungen ab. "Goethe kann sich nicht mehr wehren. Von dem hat Frau Wagenknecht nichts zu befürchten." Es gebe im Faust zwar durchaus Passagen, in denen Goethe eine auf den Materialismus ausgerichtete Lebensform kritisiere. Das Ideal der Weimarer Klassik basiere aber auf Freiheit, Gerechtigkeit und dem Streben nach Harmonie und Menschlichkeit, sagt Rüther. "Das hat mit Marxismus nichts zu tun."