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Leiter des Grass-Hauses: "Wir wollen aufklären"

24.04.2015, 09:24

Lübeck - Rund 70 unbekannte Graphiken von Günter Grass werden im Herbst in Lübeck erstmals öffentlich gezeigt.

"Es handelt sich um Anfang der 1950er Jahre entstandene Arbeiten, die 2014 in einem früheren Haus von Grass in Düsseldorf entdeckt wurden", sagte der Leiter der Günter Grass-Hauses, Jörg-Philipp Thomsa (35), im dpa-Interview.

Die Graphiken sind Thema einer Sonderausstellung, die am 4. Oktober in dem Museum - einem Forum für Literatur und bildende Kunst - startet. Ebenfalls noch unveröffentlicht seien Tagebücher. Ob sie publiziert werden, darüber müssten die Nachlassverwalter entscheiden - sofern Grass keine Sperrfrist gesetzt habe.

Frage: Seit 2009 leiten Sie das Grass-Haus, ein städtisches Museum, und kannten Grass sehr gut, der im zweiten Stock des Hauses sein privates Sekretariat hatte. Wie sehr hat Sie der Tod des Nobelpreisträgers am 13. April getroffen?

Antwort: Grass war eine einmalige Persönlichkeit. Die Anteilnahme ist unendlich groß. Unser im Museum ausgelegtes Kondolenzbuch hat schon mehr als 200 Einträge, von Ministerpräsident Torsten Albig und Außenminister Frank-Walter Steinmeier, aber auch von Lübeckern, die Grass erlebt haben, seine Warmherzigkeit, seinen Humor, seine Bescheidenheit - und die ihn sehr vermissen. Das geht auch mir so.

Frage: Wie wird man überhaupt Leiter des Grass-Hauses?

Antwort: Ich bin in Moers am Niederrhein am 4. Mai 1979 geboren, exakt am Tag der Uraufführung der später oscargekrönten "Blechtrommel"-Verfilmung - es ist mir sozusagen in die Wiege gelegt. Aber im Ernst: Nach dem Germanistik- und Geschichtsstudium machte ich ein Praktikum im Lübecker Buddenbrookhaus und bekam dann ein Angebot als Volontär im Grass-Haus. Ich stand vor der Frage, ob ich eine wissenschaftliche Laufbahn anstrebe oder den sicheren Weg als Lehrer wähle - und habe mich 2007 für das Riskanteste, aber Interessanteste, das befristete Volontariat entschieden. 2009 wurde ich dann Leiter.

Frage: Welches Konzept verfolgen Sie?

Antwort: Mir ist wichtig, keine museale hagiographische Anstalt zu sein, die rein retrospektiv denkt und arbeitet. Wir bieten auch jungen Künstlern ein Podium, um sich hier zu präsentieren. Wir verstehen uns als Forum für Literatur und bildende Kunst und machen dies als Schwerpunkt seit der Gründung im Jahr 2002. Unser Schwerpunkt ist die Erforschung und Vermittlung des Zusammenhangs von Wort und Bild im Werk von Günter Grass. In Sonderausstellungen haben wir Doppelbegabungen aufgegriffen - etwa Goethe, Hermann Hesse, Ernst Barlach, Robert Gernhardt, Gottfried Keller, Cornelia Funke, Markus Lüpertz. Künstler, die sowohl schreiben als auch zeichnen.

Frage: Wie sind Ihre Rahmenbedingungen?

Antwort: Wir sind ein kleines Haus in Trägerschaft der Kulturstiftung der Stadt Lübeck, neben mir gibt es nur eine Promovendin und eine Stelle für ein Freiwilliges Soziales Jahr im Kulturbereich. Der Grundetat ist klein, Projekte sind praktisch nur über Sponsoring möglich. Die Möglichkeiten sind begrenzt. Schwerpunkte unserer Bestände sind rund 1200 Grafiken von Grass und die Manuskripte aus den Jahren 1995 bis 2002.

Frage: Sie bieten aber auch hochkarätig besetzte Veranstaltungen mit Politikern und Künstlern an und haben zudem oft Schulklassen zu Besuch, etwa jetzt zur Sonderausstellung "Im Krebsgang", schließlich ist Grass in vielen Bundesländern Abiturstoff.

Antwort: Genau, das ist uns extrem wichtig. Wir verstehen uns auch als intellektuellen Treffpunkt und Grass hat wie ein Magnet viele angezogen. Joschka Fischer, Siegfried Lenz, Avi Primor waren hier zu Gast. Aber wir haben auch viele ungewöhnliche Projekte durchgeführt, Helge Schneider etwa spielte Jazzmusik zum 85. Geburtstag von Grass - er mochte Jazz sehr. Zu den 25 000 Besuchern pro Jahr - Tendenz steigend - gehören auch immer wieder Jugendliche. Wir setzen auf zeitgemäße Vermittlungsformen, die auch junge Menschen ansprechen, hatten schon Farin Urlaub von den Ärzten hier oder auch Smudo von den Fantastischen Vier. "Lernpädagogisch" wollen wir überhaupt nicht sein, allein das verstaubte Wort Museumspädagogik löst bei mir allergische Reaktionen aus.

Frage: Wie hat Grass dazu gestanden?

Antwort: Grass war Jugendlichen gegenüber sehr aufgeschlossen, er hat etliche Schulklassen getroffen, um mit ihnen über seine Werke zu diskutieren - seine eigene Familie hat ja acht Kinder und 19 Enkel und Urenkel. Noch im letzten Jahr hat er mit mir eine Lehrerfortbildung zur Novelle "Im Krebsgang" mit 150 Pädagogen in Lübeck absolviert. Die Schulklassen haben uns dann fast die Bude eingerannt, wir mussten die Öffnungszeiten teils vorverlegen.

Frage: In der Öffentlichkeit galt Grass als streitbarer Geist, das lange Verschweigen seiner kurzen Waffen SS-Zeit am Kriegsende als 17-Jähriger, aber auch seine Kritik an Israel hat jede Menge Kritik hervorgerufen - wie gehen Sie damit um?

Antwort: Wir haben nie versucht, für Grass Partei zu ergreifen, sondern ihn so darzustellen, dass sich die Besucher ihr eigenes Bild machen können. Es gibt kein Thema, dem wir uns nicht stellen. Wir wollen ihn nicht verteidigen, aber aufklären. Der Vorwurf des Antisemitismus ist geradezu grotesk. Nur ein Beispiel: Grass hatte 1958 bei Recherchen für "Die Blechtrommel" den erschreckenden Bericht dess SS-Offiziers Jürgen Stroop über die Vernichtung des Warschauer Ghettos von polnischer Seite bekommen. Die Fotos aus dem Bericht sind inzwischen weltberühmt. Grass hatte dafür gesorgt, dass dieser Bericht in seinem Verlag veröffentlicht wird und ihn jeder Bundestagsabgeordnete erhält. Das weiß kaum jemand.

Frage: Und die Mitgliedschaft in der Waffen-SS?

Antwort: Über seine eigene Indoktrinierung und Verblendung durch den Nationalsozialismus als Heranwachsender hat Grass schon sehr früh sehr offen und selbstkritisch gesprochen. Dem Verleger Klaus Wagenbach gab er bereits 1963 Auskunft über seine kurze SS-Zeit. Danach wuchs die Scham. Das lange Verschweigen wird meines Erachtens völlig überbewertet, wenn Kritiker meinen, dadurch würde das literarische oder politische Werk von Grass insgesamt entwertet.

Frage: Was ist Ihr nächstes großes Ausstellungsprojekt?

Antwort: Am 4. Oktober wird eine Sonderausstellung mit den frühesten graphischen Arbeiten von Grass eröffnet, die wir überhaupt kennen. Sie wurden erst im vergangenen Jahr in Düsseldorf in einem Haus, in dem Grass mal in einer WG gewohnt hatte, entdeckt. Die rund 70 Graphiken entstanden Anfang der 1950er Jahren, als Grass Porträts gemacht hat etwa in einem Caritas-Heim. Man sieht, wie sich der Künstler Grass ausprobiert und wie viel schon angelegt ist, was sich dann später erst im Werk entfaltet. Die Arbeiten gehören der Ute und Günter Grass-Stiftung.

Frage: Ist denn auch im literarischen Bereich noch Unveröffentlichtes zu erwarten?

Antwort: Der Steidl Verlag will Grass\' letztes Buch "Vonne Endlichkait" im Sommer herausgeben. Er hat fast alles veröffentlicht, woran er gearbeitet hat - bis auf die Tagebücher, die er bis zuletzt noch seiner Sekretärin Hilke Ohsoling diktiert hat aus der Zeit um 1995, als er nach Lübeck kam zu. Diese Tagebücher wollte er wohl noch veröffentlichen. Die Nachlassverwalter müssen entscheiden ob sie sämtliche Tagebücher veröffentlichen. Ich weiß nicht, ob Grass Sperrfristen vorgegeben hat. Da ist noch Einiges zu erwarten.

Frage: Wie setzen Sie Ihre Arbeit fort?

Antwort: Für uns ist die Überschrift "Fortsetzung folgt" der Nobelpreisrede von Günter Grass ein Vermächtnis. Am Ende des großen Werkstattberichts "Sechs Jahrzehnte" hat Grass einen auf Zukunft setzenden Doppelpunkt als Schlusszeichen gesetzt. Diesen Doppelpunkt sehen wir als Verpflichtung und wollen dazu beitragen, dass sein Werk lebendig bleibt.

ZUR PERSON: Jörg-Philipp Thomsa (35) ist seit 2009 Leiter des Günter Grass-Hauses in Lübeck. Thomsa stammt aus Moers am Niederrhein und hat Germanistik und Geschichte studiert. Nach dem Studium machte er Praktika im Bundestag und im Lübecker Buddenbrookhaus, ehe ihm 2007 ein Volontariat im Grass-Haus angeboten wurde. In dem Museum der Stadt Lübeck konizpierte er 2012 die Dauerausstellung neu. Zudem verantwortete er Sonderausstellungen. Thomsa arbeitet an einer Promotion zur Kulturpolitik im Ruhrgebiet nach 1945 am Beispiel der Stadt Duisburg.