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Kim Leine: Kampf um große Ideen

27.02.2014, 07:52

München - Ein Kopenhagener Pastor namens Morten Falck macht sich 1787 auf nach Grönland zu den "Wilden". Voll aufrechter Vorsätze als Missionar, mit den Freiheits- und Gleichheitsidealen der Aufklärung im Kopf sowie der gemütlichen Milchkuh Roselil als einziger Begleitung.

Sechs Jahre später wird er zurückkehren als Gescheiterter, halbblind, versoffen, zwischendurch in Ketten gelegt, hoffnungslos verschuldet, schuldig geworden auch durch den reihenweisen Bruch der zehn Gebote, die er doch den Grönländern vermitteln wollte.

Der dänisch-norwegische Autor Kim Leine (52) hat in "Ewigkeitsfjord" mit dem erfolglos um den rechten Weg kämpfenden Gottesmann eine ziemlich moderne und über alle 600 Seiten fesselnde Romanfigur geschaffen. Leine lässt ihn als 26-Jährigen aus dem Geburtsland Norwegen in Kopenhagen ankommen und vor dem Abenteuer in der Arktis schon mal eine Verlobung auflösen: Die Angst vor allzu fader Bürgerlichkeit und Rousseaus Satz "Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten" lassen dem jungen Theologen die Einschiffung mit einer Kuh ins unbekannte Grönland verheißungsvoller erscheinen.

Am "Alten Sukkertop" ("Alter Zuckerhut") auf der unwirtlichen Polarinsel, mitten unter seinen so ganz anders gepolten Ureinwohnern und fernab der Bequemlichkeiten der Zivilisation mottet Falck die hehren Vorsätze zügig ein. Das Verlangen nach einer wärmenden Bettgefährtin gegen die Einsamkeit und den Schnapsvorräten der dänischen Kolonialherren erweisen sich als stärker. Bis der zu Liebe ziemlich unfähige Pastor am Ewigkeitsfjord in Berührung kommt mit einer den Dänen trotzenden, egalitären Grönländer-Kommune. Dramatische Ereignisse nehmen ihren Lauf und bringen die Hauptperson erst in Ketten wieder zurück an den Zuckerhut.

Leine erzählt diese Geschichte voller Tragik, Gewalt und Komik als historischen Roman, zusammengehalten auch durch Thrillerelemente. Im Prolog stellt sich die Frage, wer wohl die grönländische Witwe mit komplizierter Vergangenheit von der Klippe in den Tod gestoßen hat. Man vergisst die Frage aber dann irgendwann, weil das Buch so prall gefüllt ist mit ganz anderen spannenden Elementen. Schön treffend haben es die Juroren beim Nordischen Literaturpreis 2013 für den "Ewigkeitsfjord" formuliert: "Ein mitreißendes Epos über Unterdrückung und Aufruhr, ein antikolonialistisches, weit verzweigtes Werk, voller Fantasien über den Menschen als Körper und Idee."

Vor allem auch darüber, dass gute Ideen mit den mehr unmittelbaren körperlichen Antrieben oft nicht zusammenfinden. Leine, der selbst 15 Jahre in Grönland als Krankenpfleger gearbeitet und sein Buch den dortigen Pionieren der Loslösung von Dänemark gewidmet hat, stattet auch seine einheimische Personengalerie mit widersprüchlichen, oft wenig sympathischen Eigenschaften aus. Das gilt nicht zuletzt für Habakuk und Maria Magdalena, die nach Freiheit für ihr Volk strebenden "Propheten vom Ewigkeitsfjord" (so der Originaltitel des Buches), die als historische Figuren vom Ende des 18. Jahrhunderts verbürgt sind. Dass die Kapitel über die aufmüpfigen Propheten am Ende die schwächsten des Buches geworden sind, verwundert ein bisschen.

Durch die massiv ins Zentrum gerückte dänische Hauptfigur kommen die Leser in den Genuss einer brillanten historischer Schilderung des Kopenhagener Alltags in der Zeit der Französischen Revolution. Wo die Empfindungen der Menschen, je nach Jahreszeit und Wetterlage, immer stark von der Intensität des allgegenwärtigen Latrinengestanks geprägt sind. Wie in Grönland der Kampf gegen Läuse und der genauso hoffnungslose um einigermaßen saubere oder auch nur trockene Kleidung den Alltag meistens mehr beherrschte als der für den Sieg der Aufklärung.

So sei es nun mal gewesen, sagt der Autor und das gelte auch für die Schilderung brutaler sexueller Aktivitäten auf der Polarinsel. Brutal gingen vor allem die Männer der dänischen Kolonialmacht vor, allen voran ein Pastoren-Vorgänger Falcks, der mit seinen weiblichen Hausangestellten jede Menge "Mischlinge" zeugt. Inzest dabei schert ihn nicht und auch nicht, dass er eine Mutter und die gemeinsame Tochter zu Geschwistern macht.

Leine bringt historische Genauigkeit und die Erfindung einer in ihrer Widersprüchlichkeit auf moderne Weise fesselnde Hauptfigur meisterhaft unter einen Hut. Man leidet mit dem Pastor Falck, man verabscheut ihn nicht selten, denkt an eigenes Scheitern und knabbert am Ende nervös an den Fingernägeln, ob der verheerende Kopenhagener Stadtbrand 1795 ihm durch Verbrennung belastender Dokumente vielleicht doch noch das gewünschte zweite Pfarramt in Grönland bringt. Die Schilderung der Feuersbrunst ist ein kleines Meisterwerk im großen.

Leine bekennt ohne Zögern, dass er seinen vierten Roman mit Vorbildern wie Herman Melvilles "Moby Dick", Leo Tolstois "Krieg und Frieden" sowie Nordeuropäern wie Knut Hamsun und Halldor Laxness im Hinterkopf geschrieben hat. Das ist auch nicht zu übersehen, stört aber überhaupt nicht, weil dieser Autor eine eigene Geschichte für Leser des 21. Jahrhunderts zu erzählen hat. Zu loben ist ganz bestimmt auch die Arbeit der Übersetzerin Ursel Allenstein, die keine leichte Aufgabe hatte: Leine schreibt 600 Seiten so gut wie durchgängig im Präsens. Auch in der deutschen Version macht das nie müde.

(Kim Leine: Ewigkeitsfjord. Hanser Verlag, München, 640 Seiten, 24,90 Euro, ISBN 978-3-446-24477-1)