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Nebel und Erinnerungen: Sarah Kirschs "Juninovember"

04.03.2014, 09:50

Berlin - Aus dem Nachlass der 2013 gestorbenen Lyrikerin Sarah Kirsch sind jetzt ihre Tagebuchnotizen aus den Jahren 2002 und 2003 veröffentlicht worden - wirklich mehr Notizen als Aufzeichnungen.

Es sind teils schnoddrige, im Berliner Tonfall mit irrwitziger (aber auch aufgesetzt wirkender) Orthografie niedergeschriebene Alltagsbeobachtungen und Erinnerungen und teils auch poetische Naturbetrachtungen im scheinbar ewigen Novembernebel und Schmuddelwetter rund um ihr Haus in Schleswig-Holstein.

Es ist ein kleines Büchlein, streckenweise nett zu lesen, aber in vielen nüchternen Wiederholungen von Wetterberichten und anderen Tagesmeldungen ("Es regnet sehr bedächtig", "Ich warte auf die Krähen") auch oft ermüdend. Dann wieder in kurzen Streiflichtern über Schriftstellerkollegen und den Literaturbetrieb zupackend, angriffslustig und bissig, nicht zuletzt bei Rückgriffen auf ihre Zeit in der DDR, die sie mit ihrer Ausbürgerung 1977 verlassen hatte. "Er log, dass sich die Balken bogen", meint sie zum Beispiel über Hermann Kant als TV-Zuschauerin. "Dichter sind Genies mit schlechtem Gedächtnis", notiert sie an anderer Stelle.

Oder Günter Grass wird 75: "Ein gewisser Primitivismus spricht aus ihm." Und: "Dieser uffgeblasene Biermann, der Lehrer der Nation!" Wenn Peter Handke 60 wird und Peter Hamm meint, "der hätte sich immer neu erfunden" ergänzt Kirsch: "Was für ein Blödsinn." Brigitte Reimann wird als "Nymphomanin" abgehakt, sie "schreckte vor keiner Affäre zurück". Walter Jens wird 80, "als ob das was Besonderes wär, überall Weihrauch, Gespräche. Der große Schriftsteller und Gutmensch - irgendwann geht das nach hinten los", notiert sie im März 2003.

Erstaunlich der TV-Konsum in der schleswig-holsteinischen Einsamkeit ("Ich bin gestern auf 6 Filme gekommen", notiert sie Weihnachten, oder es gibt im Februar "nur Fasching und Karneval, alles sehr grauslich"). Sie bekennt sich offen zu einer gewissen Neigung zu alten DDR-Krimis - "...und grusel mir so schön voll Nostalgie", besonders aber "die Ideologie. Wann sie \'Genosse Hausmeister\' sagen und ich weeß der ist bei der Stasi. Und die Schrankwände alle!"

Deutlich wird die offenbar wachsende Abneigung der Autorin, auf Lesereisen zu gehen und Interviews zu geben, obwohl sie die Aufmerksamkeit, die ihr entgegengebracht wird, doch auch immer noch genießt. Aber selbst die Leipziger Buchmesse lockt nicht mehr sofort: "Um Gottes Wihelm Buchmesse und Interviews und Ossiland!" Die Stadt selbst liegt ihr noch am Herzen: "Ich war das letzte Mal 1991 dort, sicher ist es jetzt eine sehr schöne Stadt." In Weimar "nervt" Goethe "a bisserl" und "Gipsbüsten noch und noch...Und Pferdekutschen, also die ham sie nicht alle!"

Auffallend sind die melancholischen Töne Kirschs bei ihren Wetter- und Naturbetrachtungen, sie liebt das Triste drumherum. "Es geht doch nichts über solch einen tristen Novembermorgen...Wie ich das liebe!...Oder ist es doch so, daß ich genieße allein zu sein." Ein "Fazit" notiert sie mit erfrischender Selbstbeobachtung und ironischem Blick nach innen schon zu Beginn dieser Aufzeichnungen im September 2002: "Ich will in Ruhe vertrotteln."

Ein Fazit dieser Tagebuch-Lektüre ist allerdings auch, dass sie vielleicht in den privaten Schreibtischschubladen besser aufgehoben wären als unbedingt zwischen Buchdeckeln zu erscheinen. Sie sind im simplen Sinne sehr privat und für die Öffentlichkeit doch eigentlich unerheblich, sieht man von einigen amüsant-polemischen "Zensuren" über Kollegen ab, und wären wohl ohne den Namen einer prominenten Autorin nie veröffentlicht worden.

Sarah Kirsch: Juninovember, Deutsche Verlags-Anstalt DVA, München, 200 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-421-04636-9