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"Untergetaucht" als Jüdin im Berlin der Nazizeit

18.03.2014, 12:43

Frankfurt/Main - An dem Morgen, als die Gestapo sie verhaften will, taucht Marie Jalowicz unter. Es ist Montag, der 22. Juni 1942, als es früh um sechs an der Tür klingelt. "Machen Sie sich fertig. Wir wollen Sie verhören", behauptet der Gestapo-Beamte.

Marie Jalowicz, Jüdin, 20 Jahre alt, glaubt dem Mann kein Wort und stellt sich dumm. "Ich hab nüscht zu essen hier", sagt sie und bittet darum, bei der Nachbarin ein Stück Brot zu holen. Und übertölpelt dann auch den zweiten Polizisten, der unten im Flur wartet. Ihre Geistesgegenwart rettet ihr das Leben. Drei Jahre lang muss sie sich verstecken, unter falschem Namen, in häufig wechselnden Wohnungen, immer in der Angst, doch noch entdeckt und ermordet zu werden.

Aus ihren Erinnerungen an diese Zeit ist "Untergetaucht" entstanden, ein ungewöhnliches, spannendes, lesenswertes, kluges Buch, das gerade im S. Fischer Verlag erschienen ist. Es erzählt präzise und facettenreich, wie eine junge jüdische Berlinerin erlebt, dass täglich Bekannte und Verwandte abgeholt werden oder den Deportationsbefehl bekommen. Und die sich damit nicht abfinden will, dass sie als nächste dran sein könnte. Unterzutauchen geht nur mit Hilfe von Bekannten oder Nazigegnern, die sie unterstützen. Manche lassen sie bei sich wohnen, andere besorgen ihr eine Kennkarte, die ihr eine neue Identität verschafft.

Manche Erlebnisse erscheinen fast romanhaft: Etwa die Episode, wie Marie Jalowicz versucht, durch eine Scheinehe mit einem Chinesen namens Schu Ka Ling einen ausländischen Pass zu bekommen und für den Antrag auf die Heiratsgenehmigung vorspielt, ein Kind von ihm zu erwarten. Oder der Versuch, im Spätsommer 1942 nach Sofia zu reisen. In die bulgarische Hauptstadt schafft sie es tatsächlich - und nur mit großem Aufwand sieben Wochen später wieder zurück nach Berlin, als sich ihre Pläne zerschlagen haben, weiter nach Palästina zu reisen.

Das Buch erscheint wie eine Zeitreise ins Berlin des Zweiten Weltkriegs, der Ton ist authentisch - man glaubt sofort, einer Frau zuzuhören, die nicht viel über 20 Jahre alt ist. Und man erfährt aus deren Perspektive vieles, was so nicht im Geschichtsbuch steht: Wie es sich anfühlt, sich mit überzeugten Nazis zu unterhalten, während man sich selbst nichts anmerken lassen darf zum Beispiel.

Aber auch, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen und Einstellungen der Berliner sind: Führergläubig und auf den Endsieg hoffend die einen, Nazigegner die anderen, die untergetauchten Juden helfen, auch wenn das ein hohes Risiko für alle Beteiligten ist. Und dann gibt es auch die, die Marie Jalowicz zwar verstecken, sie aber gleichzeitig spüren lassen, wer hier von wem abhängig ist. "Untergetaucht" erzählt extrem differenziert, auch das ist eine große Stärke.

Schon die Entstehungsgeschichte des Buches ist außergewöhnlich: Über ihre Erlebnisse zu sprechen, ist Marie Jalowicz immer schwer gefallen. "Es gehört zu meinen Kindheitserinnerungen, dass eine Freundin der Familie immer wieder auf meine Mutter einredete, sie möge doch ihre Geschichte aufschreiben oder besser noch diktieren", schreibt ihr Sohn Hermann Simon im Nachwort. "Ja, ja", antwortete sie dann zwar, tat aber nichts dergleichen.

Doch dann stellte Simon, Historiker und Direktor des Centrum Judaicum in Berlin, eines Tages im Dezember 1997 ein Aufnahmegerät auf den Tisch: "Du wolltest doch immer deine Geschichte erzählen." Und seine Mutter begann, "etwas überrumpelt und auch aufgeregt" ihre Erinnerungen auf am Ende 77 Kassetten zu sprechen. Es war, als sei ein Damm gebrochen: Stunde um Stunde berichtete sie von ihren Erlebnissen.

Die letzte Aufzeichnung entstand nur einige Tage, bevor sie am 16. September 1998 starb. Ihr Sohn ließ die Tonbänder abtippen: mehr als 900 Seiten war der Text lang. Die Journalistin Irene Stratenwerth formte daraus das Manuskript für "Untergetaucht" - "Die Stimme meiner Mutter höre ich aus jeder Zeile", lautet Hermann Simons Urteil.

Simon recherchierte selbst viele Fakten nach: "Die Orte, die Namen und die Personen, denen sie begegnet war, fanden sich in alten Adressbüchern oder in den Akten unterschiedlichster Behörden wieder." Und so machte der Historiker immer wieder die Erfahrung, dass die Angaben seiner Mutter nicht nur ausgesprochen präzise, sondern auch in den Details korrekt waren. Das macht einen Teil der Faszination des Buches aus: Die Erinnerungen sind so dicht, so lebendig, als erzähle da jemand von den Erlebnissen der vergangenen Wochen und nicht im Rückblick nach vielen Jahrzehnten.

- Marie Jalowicz Simon, Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940-1945. Bearbeitet von Irene Stratenwerth und Hermann Simon, S. Fischer Verlag, 415 Seiten, 22,99 Euro, ISBN 978-3-10-036721-1.