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Der Mann, der nicht aufhörte zu wachsen: "Der Riese"

08.04.2014, 12:20

Berlin - Als Kind ist Tilman Wölzinger ein ganz normaler Junge. Ein unspektakuläres kleinbürgerliches Leben scheint ihn zu erwarten.

Wie sein Vater wird er später einmal auf Dächern arbeiten, "Schwäbisch bis zur Unverständlichkeit" sprechen und "mit unbekümmertem Schmatzen Maultaschen" essen, kurz sich als ein echter Wölzinger erweisen. Doch dann spielt eine Drüse in seinem Hirn verrückt und sorgt dafür, dass sein Körper immer weiter in die Höhe schießt. Tilman wächst und wächst. Normal ist nun nichts mehr.

Aus Tilman Wölzinger wird "Tilman der Riese", ein bestauntes Unikum, eine erschreckende Abnormität in der Welt der Durchschnittlichen. Am Ende misst er 2,67 Meter und wird als "Naturwunder" und größter Mann der Erde vermarktet. Sogar in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett hält er Einzug - genau zwischen Boris Becker und Günter Grass.

In seinem vierten Roman "Der Riese" beschreibt Stefan aus dem Siepen (Jahrgang 1964) das Schicksal eines Menschen, der jedes Maß sprengt und dadurch zum Außenseiter wird. Doch dieses Außenseitertum bedeutet nicht nur Stigmatisierung und Ausgrenzung, sondern auch Chance und Aufbruch. Denn nicht nur körperlich, auch geistig wächst Tilman über sich hinaus. Er entdeckt Freuden, die ihm verschlossen geblieben wären, wenn sein Leben in normalen Bahnen verlaufen wäre.

Während seine Eltern ein ganz und gar prosaisches, allein aufs Materielle fixiertes Leben führen, erschließt er sich die Welt der Literatur und Musik. Nicht zuletzt findet er Trost im Reichtum seines Innenlebens. Mit fast stoischer Gelassenheit und entwaffnender Freundlichkeit begegnet er den Zumutungen seiner Paria-Existenz.

Schon früher zeigte Stefan aus dem Siepen in seinen Büchern eine Vorliebe für Außenseiter und Sonderlinge. In "Die Entzifferung der Schmetterlinge" porträtierte er beispielsweise einen Looser, der sich auf die Idee versteift, aus den Zeichnungen auf Schmetterlingsflügeln eine geheimnisvolle Schrift abzuleiten. Doch während der Schmetterlingsexperte Peter Nauten ein eher bemitleidenswerter, lebensuntüchtiger Kauz ist, erscheint Tilmann Wölzinger als tragische Gestalt, die dem Leser Mitgefühl, Respekt und Bewunderung abverlangt. Schon weil das Außenseitertum ihm quasi von einem erbarmungslosen Schicksal aufgedrückt wird.

Der Autor hält auch uns, den Normalos, in diesem modernen Märchen den Spiegel vor. Finden wir uns nicht selbst wieder in jenen brutalen, beschwichtigenden, beschämten oder übertrieben jovialen Reaktionen, die Ärzte, Passanten und Kollegen bei Tilmans Anblick an den Tag legen? "Sie alle fühlten sich, sobald sie seiner ansichtig wurden, auf eine unbezwingliche Weise befangen, konnten sich keinen Augenblick von dem Gedanken befreien, dass sie jemanden vor sich hatten, dessen Körper aus dem Rahmen fiel. Zugleich spürten sie, dass ihre Befangenheit ihnen ins Gesicht geschrieben stand, und sie schämten sich ihrer."

An Riesen gäbe es keinen Bedarf mehr, sagt ein Bundeswehr-Arzt ihm unverblümt ins Gesicht. Nur Männer von der Stange seien heute noch gefragt. Das gleiche findet auch Freundin Franzi, die sich bald seiner aufsehenerregenden Riesenhaftigkeit schämt und ihn ablegt wie ein gebrauchtes Kleidungsstück.

Stefan aus dem Siepen beeindruckt wieder einmal mit einer Sprache, die wohltuend unverschnörkelt, sehr präzise und im besten Sinne altmodisch ist, weil sie sich keine neckischen Spielereien und künstliche Aufgeblasenheit erlaubt und so gut zum parabelhaften Stil des Buches passt. Zwar ist die Szenerie weniger archaisch als in dem Vorgängerroman "Das Seil" - "Der Riese" ist sehr eindeutig in einer schwäbischen Kleinstadt der Gegenwart angesiedelt -, aber märchenhaft ist die Geschichte trotzdem. Nur ist es eben ein Märchen ohne Happy End.

- Stefan aus dem Siepen: Der Riese, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 200 Seiten, 14,90 Euro, ISBN 978-3-423-26025-1.