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Buch mit Hoffnungsschimmer: "Der Osten ist ein Gefühl"

29.04.2014, 12:16

Berlin - Anja Goerz sieht sich im Epizentrum zwischen "Typisch Ossi"- und "Scheiß Wessi"-Welten. Und das auch 25 Jahre nach dem Mauerfall. Die Journalistin hat ein Plädoyer für mehr Toleranz geschrieben.

Als Moderatorin beim Sender Radioeins des Rundfunks Berlin Brandenburg (rbb) erlebe sie, wie diese Mentalitäten bis heute aufeinanderprallten, schreibt die 46-Jährige in ihrem neuen Buch "Der Osten ist ein Gefühl". Warum das so ist, versucht sie in mehr als zwei Dutzend Interviews mit Koch, Friseur, Mediziner, Ex-Polizist, Journalisten und Kapitän zu erkunden.

Wer etwas über individuelle Befindlichkeiten von Deutschen aus dem Osten jenseits von Larmoyanz erfahren möchte, sollte das knapp 200 Seiten starke Buch mit dem Untertitel "Über die Mauer im Kopf" aufschlagen. Es zeigt Ankommen und Fremdsein. Ziemlich schnörkellos werden völlig verschiedene Lebensläufe aufgeblättert. Die Ost-Herkunft prägt bis heute einen Teil der Gefühle, wird deutlich.

Da erinnert sich der Berliner Sternekoch Marco Müller an seine Koch-Lehre. "Die theoretische Ausbildung war im Osten 1a." In der ersten West-Zeit sei fehlende Warenkunde ein Problem gewesen. Die Salate Lollo Rosso und Frisee habe er nicht unterscheiden können. In der DDR sei keiner entlassen worden, weil er faul war. "Deshalb war es für viele schwer, als sie in den Westen kamen." Müller ärgert sich noch heute über das vergiftete Kompliment "Das hätte ich ja nicht gedacht, dass Du aus dem Osten kommst". Mit Oberflächlichkeit komme er schwer klar. "Wir im Osten waren auf gewisse Weise ehrlicher."

Ein Taxifahrer sagt rückblickend: "Hätte man gewusst, dass der Westen kommt, hätte man Abitur machen müssen." Er unterscheide nicht mehr zwischen Ost und West: "Das ist alles Deutschland für mich."

Hingegen empfand ein Ex-Grenzsoldat das DDR-Ende als persönliche Niederlage. Ihm sei der Boden unter den Füßen weggezogen worden. "Vieles hatte keinen Bestand mehr." Er erlitt einen Zusammenbruch. Kollegen, die als Polizisten im wiedervereinigten Deutschland neu starteten, hätten sich Udo rufen lassen müssen (Unser dummer Ossi). Doch im Buch gibt es auch den Blick von West nach Ost. So erzählt eine Bankangestellte, wie sie das Begrüßungsgeld auszahlte.

In der DDR habe man als steinalt gegolten, wenn man erst mit 25 sein erstes Kind bekam, sagt eine Hebamme. "Für uns bedeutete ein Kind ja auch, dass man eine Wohnung bekam." Das Unkomplizierte vermisse sie bei heutigen Müttern. "Wessifrauen brauchen schon fast eine Bedienungsanleitung für ihre Kinder." Ihr Rat: Auch mal etwas aus dem Bauch heraus entscheiden, Babys gelegentlich ruhig brüllen lassen.

Schauspieler Thomas Nicolai hat hingegen DDR-Willkür erlebt: Sein Vater durfte nicht zu seiner sterbenden Mutter nach Köln fahren - ohne Angabe von Gründen. Das Leben ohne Mauer habe er gleich genossen. Doch Freiheit sei auch eine unglaubliche Belastung. "Es ist anstrengend, sich immer entscheiden zu müssen."

"Wir sind mit so einer Freude in diese Einheit gegangen, mit einem Gefühl von Reichtum. Wir haben ein System überstanden und jetzt gehen wir in etwas Neues", fasst Film-Kritiker Knut Elstermann und Kollege von Goerz damalige Hoffnungen zusammen. Doch er treffe immer wieder auf Gleichgültigkeit. "Aber ich habe mich ja auch geändert und Neues dazugelernt - darf man das nicht auch von den Menschen im Westen erwarten?" Die Erinnerung an die DDR-Zeit verblasse, weil viele Westdeutsche sich nicht dafür interessierten, bedauert er.

Doch es gibt auch Optimismus: Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) sagte, das Zusammenwachsen empfinde sie als sehr gut. Andere Mentalitäten und Lebenserfahrungen erlebe sie nicht als trennend. Sie schaue nach dem, was Menschen verbinde. Doch bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit müssten sowohl der Diktaturcharakter als auch positive Aspekte im Alltag gesehen werden.

Der Mediziner Hans Joachim Maaz, der nach dem Mauerfall mit seinem Werk "Der Gefühlsstau - ein Psychogramm der DDR" große Diskussionen ausgelöst hatte, gibt in dem Buch von Goerz den Deutschen mit auf den Weg: "Der Osten muss von den Schwierigkeiten des Westens erfahren und der Westen auch die positiven Seiten des Ostens akzeptieren."

- Anja Goerz: Der Osten ist ein Gefühl. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 200 Seiten, 14,90 Euro, ISBN 978-3-423-26030-5.