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Radikal offen: Karl Ove Knausgårds "Leben"

01.07.2014, 13:41

München - Ein 18-Jähriger will dringendst die Unschuld verlieren, weitet den Alkoholkonsum drastisch aus, träumt von Ruhm als Schriftsteller und kämpft mit immer noch dünner Haut gegen den Schatten des Vaters.

Das klingt als Romanstoff absolut nicht nach Neuland, und doch füllt der Norweger Karl Ove Knausgård (45) damit in "Leben" gut 600 Seiten auf eine Weise, die ihm auch aus New York hymnisches Kollegen-Lob eingetragen hat. Zadie Smith twitterte über ihr Lektüreerlebnis mit Knausgårds sechsbändiger Serie über das eigene Leben: "Unglaublich. Ich habe gerade 200 Seiten davon gelesen und brauche die Fortsetzung so dringend wie Crack."

Jeffery Eugenides begeisterte sich vor ein paar Wochen bei der US-Vorstellung des dritten Bandes, dass Knausgård das Gefühl vermittle, "man sauge das komplette Porträt eines ganzen Lebens in sich ein". Jonathan Lethem bekannte: "Ich lese die Bücher wie unter Zwang. Ich kann einfach nicht aufhören." Die deutschsprachige Ausgabe ist mit "Leben" beim vierten Band angekommen. Knausgård schreibt hier über die zwei Jahre zwischen der Scheidung seiner Eltern, als er 16 war, bis zu einem Jahr als Aushilfslehrer an einem isolierten nordnorwegischen Nest gleich nach dem Abitur.

Wie in den vorausgegangenen Folgen ("Sterben", "Lieben", "Spielen") offenbart der Autor in meist radikaler Offenheit, ohne irgendeine Wertung und in einfacher, klarer Sprache mit Sogwirkung was ihm erinnernswert ist. Dass der jedes Mal viel zu frühe Samenerguss dem Gymnasiasten und dem jungen Aushilfslehrer Knausgård in dieser Zeit das existenzielle Grundproblem schlechthin war, wird mit derselben nüchternen Detailfreude beschrieben wie der Diebstahl von Geld des Bruders oder die Wandlung des Vaters vom allgegenwärtigen, allmächtigen Haustyrannen zum immer mehr durchschauten Trinker in immer weiterer Ferne.

Knausgård hat die einzigartige Fähigkeit, noch den letzen Alltagstrivialitäten erzählerisch soviel Leben und Sinn einzuhauchen, dass man einfach weiterlesen muss. Allerdings fällt die Sogwirkung in diesem Band schwächer aus als in den Auftakt-Büchern mit ihren häufigen Perspektivwechseln zwischen Erinnerung, Jetzt-Zeit und Reflexionen.

In "Leben" hält sich Knausgård durchgängig an die Perspektive des männlichen Teenagers, für den die Brustgröße oder andere weibliche Körpermerkmale der Schlüssel zum Verständnis des Universums waren. Das hat man irgendwann als zentral kapiert, nickt als männlicher Leser vielleicht auch nachdenklich, ist aber erst auf Seite 100 angelangt und hat noch etliche Wiederholungen auf 500 Seiten vor sich. Knausgård schildert ausführlich erotische Fantasien und auch Ansätze zu entsprechenden Aktivitäten als 18-jähriger Lehrer mit 13- jährigen Schülerinnen. Leser können und sollen nicht wissen, was davon erlebt oder erfunden ist.

In Norwegen hat die Buchserie unter dem knalligen Titel "Min Kamp" ("Mein Kampf") eine Auflage von fast 500 000 und damit mehr als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung erreicht. Zu diesem sensationellen Erfolg trug Knausgårds Benennung fast aller anderen Personen in seinem Erinnerungs-Projekt mit deren wirklichen Namen bei.

In "Leben" allerdings hat Knausgård die Namen der auftretenden "Lolitas" fiktionalisiert. Ihm sei der Schrecken diverser öffentlicher Anklagen und auch Gerichtsklagen von Verwandten seines Vaters nach den ersten beiden Bänden in die Glieder gefahren, bekannte der Autor in Interviews. Darunter habe der Schreibprozess der Bände drei bis fünf generell gelitten. Diese Ehrlichkeit gereicht dem Norweger zur Ehre.

Wer die narkotische Wirkung seines autobiografischen Monsterprojektes mit alles in allem 3000 Seiten so wie die Erfolgsautoren Smith und Lethem erleben möchte, sollte auf jeden Fall mit den ersten beiden Bänden anfangen. Danach bringt auch der jetzt erschienene Band "Leben" in der hervorragenden Übersetzung von Ulrich Sonnenberg Gewinn. Als Buch für sich, als "Roman", wie unter dem Titel steht, verbreitet der vierte Band weit weniger Glanz.

- Karl Ove Knausgård, Leben. Luchterhand Literaturverlag, München, 624 Seiten, 22,99 Euro, ISBN: 978-3-630-87413-5.