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Von rauer Schönheit: "Wildauge"

02.09.2014, 13:48

Berlin - "Wenn zweihunderttausend Männer losgelassen werden und durch die Gegend rennen, kommt dabei nix Gutes raus. Da geht das Schlachtvieh ebenso flöten wie die Keuschheit der Mädchen." Das stellt eine Frau bei der Ankunft der Wehrmachtssoldaten in Finnland fest.

Scheelauge, wie die Einheimischen sie wegen ihres intensiven Blickes nennen, hat keine Angst um ihre Jungfräulichkeit. Die 36-jährige Hebamme bewundert die nach Lappland strömenden Kolonnen und verliebt sich in einen SS-Offizier. Die finnische Autorin Katja Kettu erzählt in dem Roman "Wildauge" vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs von einer leidenschaftlichen Liebe im hohen Norden Finnlands.

In der Rentier-Region müssen Männer Vergleichen mit dem Wahrzeichen Lapplands standhalten. Johannes Angelhurst, SS-Offizier mit Manieren, schafft es zum Traummann. Die finnischen Frauen vermuten, dass an ihm "der Geruch eines zur Brunftzeit getöteten Rentierbullen hängen geblieben war" und Scheelauge schwärmt: "Du rochst so qualvoll gut. Nach Vogelmilch, mit der das Fell eines Rentierbullen bestrichen worden ist. [] Nach Gottes Hemd. Nach schierem Schwanz und nach nichts." Er nennt sie liebevoll "Wildauge" und fragt sich insgeheim, ob sie überhaupt schon einmal "besprungen" worden ist.

Die derbe, animalische Sprache ist sehr gewöhnungsbedürftig, unterstreicht aber auch die Brutalität des Krieges, die die beiden Liebenden nicht verschont. Johannes muss seinen bequemen Posten als Reporter für ein Propagandablatt verlassen und eine Grube in einem Gefangenenlager ausheben. Er weiß wofür. Dieses Wissen und die Ahnung dessen, was er 1941 in der Ukraine in Babi Jar gemacht hat, erträgt er nur unter Drogen. Wildauge folgt ihm ins Lager. Dort schickt sie russische Juden in den Tod und treibt die Föten vergewaltigter weiblicher Gefangener ab. Sie tut alles, nur um in der Nähe ihres "schmucken Besamers" zu sein.

Aufzeichnungen ihrer Großmutter haben Katja Kettu, die 1978 in Finnisch-Lappland geboren wurde, zu dem Roman inspiriert. Sie nahm sich damit eines Tabu-Themas an. Finnland, Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, trat aufseiten Deutschlands in den Zweiten Weltkrieg ein, als Hitler im Juni 1941 die Sowjetunion angriff. Lange Zeit hielt sich der Mythos vom "eigenständigen Krieg", demnach Finnlands Krieg gegen die Sowjetunion 1941 bis 1944 nichts mit dem Vernichtungskrieg der Wehrmacht gemein hatte. Deportationen tausender sowjetischer Kriegsgefangener von Finnland nach Deutschland, die Kooperation der Finnen mit der SS und die rund 100 Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht auf finnischem Boden haben Historiker erst vor einigen Jahren aufgedeckt.

Kettu siedelt ihre Geschichte vor diesem historischen Hintergrund an. Dafür hat sie intensive Recherchen betrieben. Wie bei einer wissenschaftlichen Veröffentlichung führt sie ihre Informationsquellen in einem Literaturverzeichnis auf. So real und grausam sie das Lagerleben zeichnet, so magisch und ekstatisch stellt sie die Liebesbeziehung dar, die sich nur in einer Hütte in einem auf keiner Karte verzeichneten Fjord entfalten kann und die durch den Waffenstillstand der Finnen mit der Sowjetunion in Gefahr gerät.

Wie kreativ Kettus Umgang mit Sprache sein muss, lässt die deutsche Übersetzung und das Nachwort der Übersetzerin Angela Plöger erahnen. Kettu spielt mit Wörtern, erfindet neue, verwendet Dialekt und bedient sich ungewöhnlicher Vergleiche. Selbst Muttersprachlern sei nicht alles verständlich gewesen. Für Plöger stellte Kettus sprachlicher Reichtum eine einzigartige Herausforderung dar. Die ungewöhnliche archaische Ausdrucksweise und die vielen Zeitsprünge fordern auch den Leser. "Wildauge" ist weder sprachlich noch inhaltlich leichte Kost. Der Roman ist eher wie die Region, in der er spielt: rau und wild, aber von eigenem Reiz.

- Katja Kettu: Wildauge. Aus dem Finnischen von Angela Plöger. Galiani, Berlin, 416 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-86971-082-2.