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Fremdheit in der Ferne: Jhumpa Lahiris "Das Tiefland"

30.09.2014, 13:12

Ravensburg - Es ist eine ebenso rührende wie traurige Szene: Gauri, die vor wenigen Monaten ihren Ehemann in Indien verloren hat, traut sich nach wochenlangem Zögern auf die Straßen ihrer neuen Heimat in den USA. In einem Lebensmittelladen findet sie ein Päckchen Cream Cheese.

Sie bricht es in Stücke und isst es pur, draußen auf dem Parkplatz vor dem Laden. Cream Cheese ist eigentlich ein Aufstrich - doch Gauri kann das nicht wissen. Sie hat niemanden, den sie fragen kann. Es sind Augenblicke wie dieser, der die Figuren in Jhumpa Lahiris neuem Roman "Das Tiefland" so einsam und verloren erscheinen lässt.

Dabei ist zu Beginn der Geschichte ein glückliches Leben noch möglich: Die beiden Brüder Subhash und Udayan Mitra wachsen im Süden von Kalkutta auf. Sie sind brave Schüler, machen einen guten Abschluss, vor ihnen liegt die Zukunft mit all ihren Verheißungen. Doch Ende der 60er Jahre dringt die Politik in ihr Leben ein: In einem Dorf im Norden Indiens begehrt die Landbevölkerung gegen die Grundbesitzer auf. Aus dem Konflikt geht eine politische Bewegung hervor, der Udayan sich anschließt. Subhash dagegen bemüht sich um ein Stipendium in den USA. Sein Leben in dem kleinen Küstenstädtchen ist ruhig, die Jahre ziehen an ihm vorbei.

Doch eines Tages erhält Subhash ein Telegramm aus Indien: "Udayan getötet. Komm zurück, wenn du kannst." Von diesem Moment an beginnt sich das Leben der Protagonisten zu verändern. Die Eltern ziehen sich in sich selbst zurück, Subhash verzweifelt bei dem Versuch, Wunden zu heilen, die Udayan hinterlassen hat. Und Gauri, dessen schwangere Witwe, entschließt sich, ihren Schwager zu heiraten und mit ihm in die USA zu gehen. Nur weg aus der schwülwarmen, erdrückenden Atmosphäre in Kalkutta.

Die Pulitzer-Preisträgerin Jhumpa Lahiri ist bisher vor allem mit Kurzgeschichten über die Probleme indischer Einwanderer in die USA bekannt geworden. Auch in ihrem neuen Roman spielt die Fremdheit in der Ferne eine große Rolle. Im Zentrum stehen Protagonisten, die am Rande der Gesellschaft leben. Gauri und Subhash ertragen die Schicksalsschläge mit stoischer Ruhe. Sie leben mehr neben- als miteinander, finden vor allem nicht zueinander. So bleibt jeder mit seinem Schmerz für sich, die Eheleute entfremden sich immer mehr - und finden auch in der neuen Heimat keinen rechten Anschluss.

Lahiri selbst ist in vielen Kulturen unterwegs gewesen: Geboren ist die 47-Jährige in London, später zog sie mit ihren aus der Gegend von Kalkutta stammenden Eltern nach Rhode Island. Inzwischen lebt sie mit ihrer eigenen Familie in Rom. Für ihre Romane und Erzählungen erhielt Lahiri unter anderem den Pulitzer Preis, den PEN/Hemingway Award und dem Commonwealth Writers\' Prize.

Sie habe schon 1997 mit dem Buch begonnen, als sie hörte, wie in Kalkutta ein junger Mann vor den Augen seiner Familie hingerichtet wurde, sagte die Autorin kürzlich bei der Vorstellung ihres Romans auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin. "Aber ich fühlte mich noch nicht reif dafür. Es war sehr tiefes Wasser für mich." Erst zehn Jahre später habe sie sich entschlossen, die Geschichte aus der Heimat ihrer Großeltern fertigzuschreiben.

- Jhumpa Lahiri, Das Tiefland, Rowohlt Verlag 2014, 528 Seiten, 22,95 Euro, ISBN 978-3-498-03931-8.