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"Kindeswohl" - McEwan erzählt aus dem wahren Leben

06.01.2015, 13:53

Zürich - Das Scheitern einer Ehe hat Ian McEwan selbst erlebt. Und dabei auch den Streit um "das Wohl der Kinder" vor Familienrichtern. Vertraut sind dem englischen Schriftsteller zudem Debatten über religiösen Fanatismus.

In seinem neuem Roman "Kindeswohl" sind diese drei Elemente wichtig. Hinzu kommen große Emotionen. Die Zuneigung seiner Heldin, der anmutig alternden Juristin Fiona Maye, zu einem Jüngling. Und ihre Wut auf den eloquenten Ehemann Jack, der unbedingt mit einer anderen ins Bett will.

Serviert wird das mit psychologischem Scharfblick, Realitätssinn und vorsichtig dosierter Ironie. Eine Mischung, die Leser des inzwischen 66-jährigen McEwan ("Abbitte", "Saturday", "Honig") an seinen Romanen und Kurzgeschichten schätzen. "Kindeswohl" beginnt mit einem Streit nach einigen Single Malt Whiskys und drei Jahrzehnten Ehe: "Ich bin dein Bruder geworden", wirft Jack seiner Frau Fiona an den Kopf. "Das ist schön und behaglich und ich liebe dich, aber bevor ich tot umfalle, will ich noch eine große leidenschaftliche Affäre haben."

Jack ist Geschichtsprofessor, Fiona Familienrichterin. Beide sind rund 60, kinderlos, kultiviert, vernetzt in den besseren Londoner Kreisen. Jack will Sex mit einer jungen Assistentin - und die Gattin soll ihren Segen dazu geben. "Du verdammter Idiot!", schleudert sie ihm entgegen. Und: "Die Antwort lautet Nein."

Jack packt seine Sachen. Fiona lässt die Wohnung mit einem neuen Türschloss verriegeln und stürzt sich am High Court in die Arbeit. Gerade erst hat sie einen der aufregendsten Fälle der britischen Familiengerichtsbarkeit auf den Tisch bekommen.

Es ist ein Fall aus dem wahren Leben. McEwan wurde durch einen befreundeten Richter darauf aufmerksam. Er studierte Gerichtsakten, diskutierte mit Juristen und zog eigene Erfahrungen mit Familiengerichten aus seiner schwierigen Scheidung vor fast 20 Jahren heran. Millionen Leser schätzen diese Arbeitsmethode: Wirklichkeit und zugleich Fiktion, genau recherchierte reale Geschehnisse mit erfundenen Romanhelden, die höchst authentisch wirken.

Dieser Fall ist freilich so ungewöhnlich, dass man stutzig wird. Gibt es das? Eltern verweigern aus religiösen Gründen die Zustimmung zur lebensnotwendigen Bluttransfusion für ihren an Leukämie erkrankten Sohn? Mutter und Vater sind streng gläubige Zeugen Jehovas und als solche überzeugt, dass am biblischen Verbot, Blut in sich aufzunehmen, nicht zu rütteln sei.

Wer sein Blut mit dem eines anderen vermische, der verunreinige es und weise "das wunderbare Geschenk des Schöpfers zurück", erklärt der Vater vor Gericht. "Darum verbietet Gott das ausdrücklich in Genesis, Levitikus und in der Apostelgeschichte." Auch Adam, der 17-jährige Sohn, will nach eigenem Bekunden lieber sterben, als Gottes Weisung zu missachten.

Ärzte fordern eine Zwangsanordnung, um das Leben des Jugendlichen retten zu dürfen. Es gehe um Stunden. Richterin Maye fährt ins Krankenhaus. Sie trifft auf einen schönen, künstlerisch begabten und klugen Jüngling, der "zum Märtyrer seines Glaubens" werden will.

Die Romanheldin weiß, wie heikel Interventionen der Justiz gegen religiöse Grundsätze sind. Sie weiß auch, dass die Würde von Patienten und deren Recht, eine Behandlung zu verweigern, ein hohes Gut sind. Doch Adam ist noch nicht volljährig. Und Fiona hat die Macht, sich über seinen und den Willen der Eltern hinwegzusetzen.

"Nach meiner Überzeugung ist sein Leben wertvoller als seine Würde", erklärt die Richterin. Eine vernünftige Entscheidung, sollte man meinen. Auch ganz im Sinne des Autors, in dessen Werken sich immer wieder sein grundsätzliches Plädoyer für Vernunft, für die Suche nach rationalen Lösungen von Konflikte widerspiegelt.

Doch sprach da nur die reine Ratio des Gesetzes aus Richterin Maye? Oder hat sich die frisch Verlassene auch von einer überraschend starken Zuneigung zu dem Jungen mit den "bläulich, zart ins Weiße übergehenden Ringen unter den Augen und vollen Lippen" leiten lassen?

In Adam, mit fremdem Blut gerettet, erwacht nicht nur neuer Lebensdurst. Er sagt sich los von Gott, verehrt, ja vergöttert nun die Richterin, schreibt ihr Gedichte und verfolgt sie fast wie ein Stalker. Fiona ringt damit, ihre Gefühle für den inzwischen 18-Jährigen unter Kontrolle zu bekommen. Einmal gelingt ihr das nicht ganz. Mit beinahe schlimmen Folgen für sie - und verheerenden für den gerade erst so dramatisch zum Leben Bekehrten.

- Ian McEwan: Kindeswohl. Diogenes Verlag, Zürich, 224 Seiten, 21,90 Euro, ISBN 978-3-257-06916-7.