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Linus Reichlin brilliert mit Familien-Psychogramm

19.05.2015, 16:51

Berlin - Menschen sind auch ein Produkt ihrer Kindheit. Doch die Beziehung zu ihren Eltern hinterfragen sie oft erst dann intensiv, wenn sie selbst Kinder bekommen.

Auch Luis verdrängt seine Erlebnisse mit dem Mann und der Frau, die sein Heranwachsen liebevoll hätten begleiten sollen - aus gut nachvollziehbaren Gründen. Linus Reichlin lässt seinen erfolgreichen Krimis ein Buch über Scham, Verdrängung und Schuld folgen. "In einem anderen Leben" ist einfühlsam geschrieben, ohne kitschig zu sein, der Protagonist selbstreflektiert, aber nicht wehleidig. Ein Buch, das schmerzt, und das wunderschön ist.

"Eine der ersten Erinnerungen meines Lebens ist die, wie mein Vater schwankt", lässt der Schweizer Schriftsteller seinen Protagonisten Luis erzählen. Spätnachts im Dunkeln steht der Vater vor der schmalen Toilette gegenüber seines Zimmers. Schwanken, Dunkelheit, Schweigen - eine beängstigende Situation, der etliche folgen werden.

Dabei hat alles so sommerleicht und glamourös begonnen: Als braun gebranntes hübsches kleines Mädchen lernt Luis\' Mutter den Vater kennen, der rauchend am Strand flaniert. "Ihr gefiel der falsche Mann an einem sonnigen, warmen Tag, an dem der See glänzte und die Birken im Wind flirrten, nur eine einzige Wolke stand am Himmel." Wahrscheinlich habe sie den ersten Schritt gemacht, glaubt Luis - "auf ihr Unglück zu".

Als 16-Jähriger ist Luis in Karin verliebt, und diese Liebe ist dringender und aufregender als die zu seiner Mutter, die von Ausflügen in ihrem Mini regelmäßig betrunken zurückgekehrt. "Meine Mutter sagte, morgen fahre ich in die Berge, und ich dachte, hoffentlich passiert ihr nichts. Aber ich dachte es zwischen zwei Gedanken an Karin."

Die Mutter rast in einer Schlangenkurve von der Bergstraße, ein Schlaganfall macht sie zur lebenden Toten. Und Luis wird von schier übermächtiger Schuld erdrückt. "Jeden Tag erinnerte mich der Anblick meiner Mutter daran, dass ich es nicht verhindert hatte." Unerträglich sei es geworden, sie zu sehen, im Rollstuhl, mit offenem Mund, den Kopf auf den Schultern, mit entleertem Blick. "Ich mied sie."

Luis hätte liebend gern in einer Band spielen wollen, aber auch nach Jahren der Übung ist und bleibt er immer ein Achtel zu schnell. Seine Zeichnungen und Bilder dagegen sind perfekt - aber immer nur "kühle Verrichtung". Ein großer Teil der Handlung dreht sich um die "Winterliche Landschaft" des niederländischen Malers Jan van Os, das von der Mutter geliebt, vom Vater verhökert und vom Sohn kopiert wird.

Als es aber ein zweites Mal nötig wäre, das Bild nachzumalen, verweigert sich Luis, will nicht erneut auf seine eigenen Pläne verzichten - "auch wenn die Mutter auf einer blauen Plastikplane Schleim erbricht und sich in ihrer Halsarterie ein Blutklumpen bildet". Auch wenn es einen kaum zu fassenden Preis kostet. "Irgendwann muss der bescheidene Wunsch nach einem eigenen Leben zentral werden."

Luis flieht aus dem Zuhause, das nie wirklich eines war, und nimmt die vielen Gespenster seiner Vergangenheit mit. Gewöhnt an chronischen Schrecken, beladen mit einem Wissen, das er mit niemandem teilen kann, bemüht, ein normales Leben zu führen - und immer wieder auf der Flucht, wenn eine neue Lebensgefährtin das Fenster zur Vergangenheit zu öffnen droht.

Das werde aus einem Kind, das in seinem Bettchen davon träumt, in einem Schokoladenhaus zu wohnen - und das im nächsten Moment von der Mutter von einer schreienden, weinenden Mutter aus dem Schlaf gerissen wird, mit einem blutverschmierten Vater im Hintergrund: Ein Mann, der von üblen Ereignissen kaum aus der Fassung zu bringen ist. "Warum? Weil ich dem Leben jederzeit alles zutraue, den Menschen sowieso, auch mir. Ich bin ein Vorgewarnter: Es kann jederzeit alles geschehen, und wenn es geschieht, bin ich gewappnet."

Aber dann ist da Livia - und es gibt gänzlich neue Gefühle, neue Gedanken, neue Ängste. Die auflösende Szene treibt einem die Tränen in die Augen: Da ist sie, die Chance, sein eigenes Leben nicht zur Wiederholung vorangegangener werden zu lassen. Der Augenblick, in dem die Weiche für ein ganzes Leben gestellt wird. Eine Leben mit wieder neuen Frustrationen und Problemen, aber eben nicht den Gespenstern einer längst vergangenen Kindheit.

Reichlin spielt virtuos mit Sprache. Sein Roman berührt - wohl gerade, weil kaum ein Mensch seinen Eltern nicht irgendeinen Fehler, eine Eigenheit, eine Lebensentscheidung zum Vorwurf macht. Und so ist das Buch immer wieder auch eine Reise in die eigene Geschichte.

- Linus Reichlin: In einem anderen Leben, Verlag Galiani Berlin
384 Seiten, Euro 19,99, ISBN 978-3-86971-104-1.