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Warum Verlage Klassiker neu übersetzen

14.03.2015, 15:53

Leipzig - Als sie ihren ersten Lieblingsklassiker neu übersetzen wollte, rannte sie nicht gerade offene Türen ein, erinnert sich Elisabeth Edl. Ein Jahr habe sie gebraucht, um den Hanser-Verlag zu überzeugen, dass Stendhals "Rot und Schwarz" neu übersetzt werden müsse und dass sie die Richtige dafür sei. Das war um das Jahr 2000 herum.

"Nach dem Erfolg von "Rot und Schwarz" war die Sache geritzt", erzählt die vielfach preisgekrönte Übersetzerin. Die Münchnerin übersetzte Stendhals "Die Kartause von Parma" und Gustave Flauberts "Madame Bovary" und sorgte für Lobeshymnen bei den Kritikern.

Heute prangt auf vielen Klassikerausgaben in den Buchläden groß das Label: neu übersetzt. Werke von Charles Dickens, Jane Austen, William Shakespeare oder Fjodor Dostojewski gibt es mitunter in Dutzendfachen Versionen - und doch fügen Verlage ihnen immer neue hinzu.

Thomas Steinfelds neue Eindeutschung des Jugendbuchs "Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden" von Selma Lagerlöf ist in der Übersetzungs-Kategorie des Preises der Leipziger Buchmesse nominiert. Brauchen wir die immer neuen Versionen der alten fremdsprachigen Klassiker eigentlich?

"Jede Übersetzung schreibt ihre Zeit in den Text ein, den sie übersetzt", sagt der Hamburger Übersetzungsforscher Prof. Norbert Greiner. Eine Zeit, die von bestimmten Stilkonventionen, Geschmacksnormen und Erwartungshaltungen geprägt sei. "Deswegen ist eigentlich eine Neuübersetzung zunächst einmal immer gerechtfertigt." Gut nachvollziehbar sei das etwa bei Shakespeares Werken, die bereits im 19. Jahrhundert alle 20 Jahre neu ins Deutsche übertragen wurden - und weiterhin neu übersetzt werden.

Für eine genaue Entsprechung von Original und Übersetzung seien die Sprachsysteme zu unterschiedlich, sagt der pensionierte Anglistik-Professor der Uni Hamburg. "Erschwerend kommt hinzu, dass eine sehr genau am Original orientierte Übersetzung nicht immer das ist, was wir uns als Kunstwerk im Deutschen erhoffen", sagt Greiner. "Aber wenn Sie einen Krimi kaufen, möchten Sie nicht sagen: "Oh, wie genau ist der übersetzt!", sondern es soll spannend sein." Eine perfekte Übersetzung? Kann es gar nicht geben.

Dem pflichtet auch Hans-Jürgen Balmes bei, der als Programmleiter Internationale Literatur bei den Fischer-Verlagen arbeitet. Übersetzungen veralteten deshalb, weil sie der angehaltene Zustand eines Werksverständnisses seien. "Währenddessen geht bei den Originalwerken das Verstehen immer weiter."

Dennoch müsse eine neue Übersetzung nicht per se eine bessere Übersetzung sein, glaubt Balmes. In der Fischer-Klassik-Reihe etwa stünden neue Klassiker-Fassungen neben etablierten Übersetzungen aus dem 18. Jahrhundert. Der Verlag teste, wo eine Neuübersetzung notwendig sei.

Das ist mit Blick auf den deutschen Buchmarkt mit jährlich Zehntausenden Neuerscheinungen auch eine finanzielle Frage. "Wirtschaftlich lohnt es sich vor allem bei ikonischen Werken", sagt Balmes und nennt als Beispiel Dostojewskis "Verbrechen und Strafe" (in älteren Übersetzungen "Schuld und Sühne"). "Wir gehen aber auch nicht davon aus, dass jede Neuübersetzung sofort funktioniert und alles wieder reinspielt. Da stützt der Dostojewski schon einmal andere Übersetzungen."

Gerade der Erfolg einzelner Neuübersetzungen habe den Trend aber angeheizt, glaubt die Übersetzerin Edl. Inzwischen werde auf diesem Gebiet von vielen Verlagen viel gemacht, doch nicht immer auf gleich hohem Niveau. "Ich habe nur Bücher übersetzt, die ich selbst vorgeschlagen habe", sagt sie - alle seien Lieblingsbücher von ihr. Für eine Übersetzung samt Nachwort und Kommentaren nehme sie sich drei bis vier Jahre Zeit. "Weniger erscheint mir unseriös." Diese Arbeit mache sie sich jedoch nur, wenn sie alle bisherigen Übersetzungen eines Klassikers für unbrauchbar halte.

Derzeit liege Flauberts "L\'Éducation sentimentale" auf ihrem Schreibtisch. Den wird sie Mitte März für eine Reise nach Leipzig verlassen. Elisabeth Edl gehört auch zu den fünf nominierten Übersetzern für den Preis der Leipziger Buchmesse. Allerdings in diesem Fall für eine Erstübersetzung, nämlich "Gräser der Nacht" des aktuellen französischen Literaturnobelpreisträgers Patrick Modiano.