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Jan Jochymskis Inszenierung des Kultstückes "Sonnenallee" hat am Schauspielhaus Magdeburg Premiere Liebenswert und lebenswahr

Von Hans Walter 30.09.2013, 01:13

Heiter nimmt die Gegenwart Abschied von der Vergangenheit. So auch in "Sonnenallee" am Freitag im Magdeburger Schauspielhaus.

Magdeburg l Die sechs Vorstellungen der "Sonnenallee" sind bis Ende November ausverkauft. Die Inszenierung von Schauspieldirektor Jan Jochymski dürfte damit bereits jetzt Kultstatus erlangen. Er erzählt das Stück nach dem 1999 entstandenen Film von Leander Haußmann und dem Buch von Thomas Brussig ganz eigenartig und höchst fantasievoll für das Theater. Max Beinemann, Reinhard Simon und Maren Rieger extrahierten die Szenen.

"Niemand hat die Absicht ..." steht auf dem Eisernen Vorhang. O doch! Walter Ulbricht und Erich Honecker, der Architekt des monströsen Politbollwerks, hatten sehr wohl die Absicht, eine Mauer zu errichten. Viereinhalb Kilometer der Straße lagen im Westen, ein Zehntel im Grenzgebiet der "Hauptstadt der DDR". Übers Leben und Lieben im Westteil schrieb Rio Reiser seinen Song "Sonnenallee, uh, du bist so Sonnenallee". Aber wie war das Leben der Menschen im kürzeren Teil? Nur Grau in Grau?

Jochymski inszenierte mit dem spielfreudigen und musikantischen Ensemble seine "Sonnenallee"-Revue. Surreal und ernst, philosophisch und irrsinnig komisch. Liebenswert und lebenswahr. Micha, Mario, Wuschel, Brötchen und Koschke sind 17 und spielen Rock \'n\' Roll in einer Band. Ihr Leben im realen Sozialismus scheint vorgezeichnet: Abitur, NVA, Uni - wenn da nicht die Pubertät und die Mädchen wären. Alles wird für sie anders. Im Aufbruch reifen die Jungen zu Männern. Unangepasst. Oder konform mit dem Staatssystem. Oder irgendwie dazwischen. Nichts ist im turbulenten Reigen so eindeutig, wie es scheint. Nicht die Heranwachsenden noch die Eltern oder die Funktionäre.

Lachen und Weinen liegen eng beieinander. Die zwölf Darsteller sind mit wahrer Lust an der Verkleidung in den verschiedensten Rollen ständig präsent. Die Schauspieler Raimund Widra, Peter Weiss, Michael Ruchter, Konstantin Marsch und David Nádvornik machen exquisite Livemusik mit zwölf Titeln. Und spielen gleichermaßen die Jugendlichen mit dem wundervoll gewitzten Charme junger Götter. Lena Sophie Vix (Miriam) und Christiane Britta Böhlke (Sabrina) sind die Katalysatoren für die Entwicklungen ihrer Freunde: präzis in der Aktion und großartig emotional.

Kabinettstückchen der Komik liefern sie alle: der tumbe Abschnittsbevollmächtigte (David Emig); Michas Eltern, Onkel Heinz mit den geschmuggelten Strumpfhosen aus dem Westen (Sebastian Reck); der Obergrenzwächter in Russenuniform wie auf dem Treptower Ehrenmal (Silvio Hildebrandt); das Aas von Schuldirektorin (Iris Albrecht), die stramme FDJ-Sekretärin (Susanne Krassa).

Die Inszenierung ist ungeheuer schnell und tänzerisch leicht (Choreografie: Sommer Ulrickson). Mit Slapstick-Szenen wie der Grablegung von Onkel Heinz oder der Umgarnung des ABVs mit "geheimer" Wonderland-"Moscow"-Musik. Mit Agitprop in der Schule oder bei der Musterung. Der Sound ist Spitze, das Licht brillant. Ausstatter Andreas Auerbach schleppte Original-Telefone, ein Fenster mit Dreh-Kipp-Plaste-beschlägen, den Alu-Griff einer Telefonzelle, den rot-gelben Armee-Turndress und einen stolzen Auszieh-Hubtisch aus der DDR-Konsumgüterproduktion an. Absolut kein Ausstattungsstück ohne erzählerische Funktion.

Am Ende finden Micha und seine vier Freunde in den zeitlichen Rahmen - die Gegenwart - zurück. Älter geworden, mit Wohlstands-Bäuchlein und Brille. Sie haben die Kraft zum gegenseitigen Verzeihen. Ein großer Moment dieser "Sonnenallee", einer ganz normalen Straße zwischen Treptow und Neukölln in Berlin. Der Hauptstadt Deutschlands.

Es gab rhythmischen Applaus unter Zuhilfenahme der Füße und Bravorufe fürs Ensemble. Ein großer Abend!