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Reich illustrierter Werkstattbericht Günter Grass über die Schulter geblickt

15.01.2015, 01:04

Göttingen (dpa) l Als der Freund und Dichter Peter Rühmkorf am 8. Juni 2008 um 11.55 Uhr stirbt, ist Günter Grass vier, fünf Minuten später bei ihm am Totenbett und beginnt zu zeichnen. Das zutiefst berührende Porträt mit feinem Strich zeigt den Kopf des Toten von der Seite mit geschlossenen Augen. In seinem Tagebuch notiert der Literaturnobelpreisträger über den Tod Rühmkorfs: "Als wir in Roseburg kurz danach eintrafen, fand ich seine Stirn noch warm..."

Zeichnung und Tagebuchauszug, dazu abgedruckt Grass´ Abschiedsgedicht "Verwaiste Reime" an Rühmkorf und persönliche Anmerkungen über die Jahrzehnte währende Freundschaft - das ist nur ein Beispiel für das Konzept und die aufwendige Gestaltung von Grass´ Werkstattbericht "Sechs Jahrzehnte".

Grass, inzwischen 87, lässt den Leser teilhaben an seinem Leben: An erster Stelle, wie literarische Werke entstehen - von ersten Gedichten in der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart. So sind handschriftliche Arbeitspläne und frühe Manuskriptfassungen als Faksimile gedruckt; Fotos zeigen Grass im Atelier beim Schreiben und Zeichnen; Illustrationen und farbenprächtige Aquarelle zeigt der prächtig gestaltete Band ebenfalls, für den der Drucker G. Fritz Margull und Grass´ langjährige Sekretärin und rechte Hand Hilke Ohsoling als Herausgeber zeichnen.

Ein zweiter Aspekt: Wie sich Grass in politische Debatten einmischt - etwa in seiner Ablehnung des Irakkriegs von George W. Bush im Jahr 2003. Und wie ihn die öffentliche Kritik der Medien trifft - so nach dem Erscheinen seiner Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" 2006 oder nach dem kritischen Gedicht "Was gesagt werden muss" (2012) über Israels Regierungspolitik und unkontrollierte Atomwaffen.

Der Werkstattbericht ist eine Fortschreibung von einem Band über 40 Jahre Schaffen (1991) und eines weiteren, einmal aktualisierten Bandes (2001/2004) über 50 Jahre als Autor, bildender Künstler und der SPD verbundener Citoyen, der sich politisch immer wieder einmischt. Insofern ist im neuen Band lediglich der 125 Seiten umfassende Teil seit dem Jahr 2003 wirklich neu.

Günter Grass: Sechs Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht. Herausgegeben von G. Fritz Margull und Hilke Ohsoling. Steidl Verlag, Göttingen, 608 Seiten, 45 Euro