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Von Martin Meißner Elternhaus und Schule

03.03.2011, 04:30

Seit der Einschulung der jüngsten Tochter war die Familie eine Art Außenstelle der Schule, eine Filiale, wenn auch von geringerem Wert. Alles, was aus der Schule kam, war unumstößlich wie ein ehernes Gesetz. Sogar Falsches durfte keiner anrühren. So wurde in der Familie Grieß jahrelang statt mit ß mit s geschrieben, weil sich eine Lehrerin da wohl mal vertan hatte.

Als erstes brachte die Schülerin allen Familienmitgliedern einschließlich der Großeltern und Tanten das Schreiben bei. Wen sie auch erwischen konnte, zog sie an den Tisch und machte vor, wie man Buchstaben richtig auf das Papier bringen muss. Auch las das Kind viel und laut.

Sichtbare Folgen hatte der Werk- und Zeichenunterricht. Nach und nach füllten sich alle Räume des Hauses mit Gegenständen und Bildern. Besonders waren allen aus Ton gebrannte und aus Butterstein modellierte Tiere und menschenähnliche Gebilde im Gedächtnis. Von der Bürorolle Susi erzählten auch andere Familien. Susi ist ein Hund, dessen Kopf ständig wippend mit einer Spiralfeder am Rumpf befestigt ist, der eine Papierrolle für die Notizen trägt. Die Bürorolle Susi ist Kult.

Das Fach Schulgarten schlug sich in der häuslichen Außenfläche nieder. Auf den Beeten wurden verstärkt und später ausschließlich Produkte angebaut, die Schwerpunkt im Schulunterricht und gut geeignet waren für den sofortigen Verzehr wie Erbsen, Möhren, Tomaten und auch Erdbeeren. Pflanzen, die man roh weniger essen kann wie Bohnen, Spinat oder Rosenkohl verschwanden aus Anbau und Speiseplan.

Die Enge Verbindung zwischen Schule und Elternhaus erreichte eine neue Dimension, als die Familie mit dem bis dahin unbekannten Begriff "Projekt" konfrontiert wurde.

Projekt heißt nicht, wie böse Zungen behaupten, jeder Schüler kann machen, was er will. Wenn er nichts will, macht er eben nichts. Das Gegenteil von chinesischem Zwangsunterricht. Aber auf jeden Fall wird der Stundenplan mit gewohnter Abfolge der Fächer aufgelöst. Im Klassenraum werden Tische und Bänke an die Wand geschoben. Und der Lehrer steht nicht vorn, sondern irgendwo.

Das Projekt Eichhörnchen hatte sich in den Familien besonders eingeprägt. Das heißt, eine geschlagene Woche war in der Schule nichts als Eichhörnchen dran. Der Unterricht aller Fächer war vom Leben dieses Waldbewohners bestimmt. Nicht nur im Sachunterricht wurden sein Lebensraum, Nahrung und Fortpflanzung besprochen, was ja nahe lag. Auch alle Texte in Deutsch wurden inhaltlich von dem beherrschenden Thema bestimmt. Dass es auch ein, zwei Lieder über Eichhörnchen gab, merkte man spätestens, wenn das Kind trällernd durch den Hausflur ging. Textaufgaben im Rechenunterricht eichhornmäßig auszurichten, lag auf der Hand. Auch Hoppeln und Springen im Sportunterricht boten sich an. Und im Zeichenunterricht entstand von diesen possierlichen Tierchen eine wahre Bilderflut. Das Ganze endete mit einer Projektpräsentation vor Eltern und Großeltern. Ein Film wurde vorgeführt und ein kleines Theaterstück.

Alles bestens. Dass Eltern später erzählten, ihre Kinder hassten nach dieser Woche Projekt Eichhörnchen und wollten nie mehr in den Wald, ist nur schwer zu glauben. Noch abwegiger war der Bericht eines Elternteils von einem Waldspaziergang, auf dem sie einem Eichhörnchen begegneten und das Kind die Frage stellte, was das für ein Tier denn sei. Gehört wohl beides ins Reich allgemeiner Miesmacherei.

Die meisten Familien allerdings erfüllte es weiterhin mit Stolz, eine Art Außenstelle der Schule zu sein.

Martin Meißner ist Schriftsteller in Sachsen-Anhalt