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Von Heinz Kurtzbach Rot für Kiewer Feinripp

24.03.2011, 04:32

Balkone sind nicht nur herausragende Gebäudeteile, sondern auch eine feine Sache. Sie geben fantasielosen Wohnbunkern ein gewisses Etwas. Auf Balkonen kann man grillen, feiern und Kräuter halten. Balkone sind Frischluftzonen, selbst wenn geraucht wird. Balkone sind unersetzlich für zwischenmenschliche Annäherungen: "Du willst schon fort? Es ist noch längst nicht Tag. Die Nachtigall war’s und nicht die Lerche …", umschmeichelte Julia ihren Romeo in der berühmten Balkonszene. Was wäre Shakespeare ohne Balkon in Verona? Aber sind Balkone auch Wäschetrockner?

Nein! Da seien Gospodin Zelowalnik und die Stadtveraltung Kiew davor. Gospodin Zelowalnik ist Kiewer Chefarchitekt und sorgt sich um das Image seiner Stadt, hat er doch Balkonmissbrauch ohne Ende ausgemacht: Männer, die sich dort, nur mit Unterhosen bekleidet, sonnen, und Frauen, die in Dessous frische Luft schnappen. Hemden und Hosen auf der Wäscheleine, allerlei Unrat aufgestapelt – kurzum: Sodom und Gomorrha auf Kiews Balkonen. Und das ein Jahr vor der Fußball-EM in der Ukraine. Schluss damit! Auf den Kiewer Balkonen hat ab sofort Ordnung zu herrschen, zumindest in Sichtweite zum Stadion. Sonst könnten die Fußballer von sich räkelnden leicht bekleideten Kiewerinnen abgelenkt werden. Was unfair wäre.

Rote Karte also für Feinripp und Damenhöschen auf Balkonen. Die haben Sorgen, dachte ich, als ich zu Horst ins Sportlereck spazierte – und wurde in den Gedanken jäh unterbrochen, weil mir etwas Lilafarbenes ins Auge stach: Da auf dem Balkon, im ersten Stock, renovierter Plattenbau, hing doch tatsächlich ein Höschen auf der Leine. Schnitt, Größe und Farbe ließen auf das Dessous einer Dame schließen, und daneben hing auch gleich noch der passende BH. Hm. Hübsch, wirklich. Aber auf dem Balkon? Ist das überhaupt erlaubt? In Deutschland? Wo doch selbst schon die Ukraine …

Das muss ’ne Gesetzeslücke sein. Aber na ja, wenn der Wäschetrockner defekt ist! Man muss die Sache mit den Balkonen und der Wäsche am Mann, an der Frau oder auf der Leine auch mal aus praktischen Gesichtspunkten sehen. Irgendwo muss das Zeug schließlich trocknen können. Außerdem erinnere man sich: War man nicht begeistert von dem lockeren, leichten mediterranen Flair beim ersten Besuch in Italien nach der großen Wende? Mittelmeer, enge Gassen, fremdländische Küchendüfte aus allen Gemäuern und – bunte Wäsche auf langen Leinen, gespannt von Balkon zu Balkon, lustig im warmen südlichen Wind flatternd? Bella Italia, das Leben ist schön!

Na gut, Bella Italia, aber Verona ist nicht Magdeburg oder Kiew, hier flattert die Wäsche nicht lustig im Wind, sondern hängt meistens als nasse Lappen an der Leine. Und Feinripp über Bierbäuchen auf dem Balkon sieht eben auch anders aus als der schön gebräunte Oberkörper eines Latin Lovers. Das Leben kann so ungerecht sein.

"Sag mal", fragte ich Horst im Sportlereck, "wer wohnt denn da drüben, wo die Wäsche auf dem Balkon hängt?" Horst wusste ausnahmsweise einmal etwas nicht. "Wieso willst ’n det wissen?", fragte er. Ich erzählte ihm die Gèschichte mit den unterdrückten Kiewer Balkonbesitzern. "Da sind wir hier in Deutschland doch ’n ganzes Stück freier, oder?" "Man", sagte Horst, "deine Sorgen möcht’ ick haben." Eigentlich hat er Recht. Was gehen mich die Balkone in Kiew an? Hauptsache, wir werden Europameister. Mit oder ohne Wäsche auf dem Balkon. Zu wem aber, zum Teufel, gehört dieses hübsche lila Höschen da drüben?