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Dokumentarfilm thematisiert den Missbrauch an der Odenwaldschule Opfer sprechen über ihre Vergangenheit

24.05.2011, 04:34

Von Stephan Höhle

Mainz/Heppenheim (dapd). Noch heute schrecke er manchmal in der Nacht auf, weil er jemanden an seinem Bett glaube. "Der Geist ist sofort hellwach, ich könnte sofort weglaufen oder kämpfen." Mit diesen Worten beschreibt ein ehemaliger Schüler der Odenwaldschule, was in den 1980er Jahren in dem Reforminternat passierte. Er ist eines der Opfer von Schulleiter Gerold Becker, das in dem Dokumentarstück "Und wir sind nicht die Einzigen" zu Wort kommt, das 3sat heute ab 22.25 Uhr ausstrahlt.

Mindestens 132 Kinder und Jugendliche sind dort zwischen 1965 und 1998 Opfer sexuellen Missbrauchs geworden. Das recherchierte Schulleiterin Margarita Kaufmann mit zwei Juristinnen, die 2009 alle ehemaligen Internatszöglinge aufriefen, sich zu melden und die Täter zu nennen.

Wie nebenbei, weil nicht Intention des Films, stellt die Dokumentation von Regisseur Christoph Röhl auch die Opferzahl infrage. "Es waren Hunderte", sagt ein früherer Schüler in die Kamera. 18 Täter sind mit Namen bekannt, Röhls Zeugen sprechen ausschließlich über zwei: über Gerold Becker, gestorben 2010, und über den Musiklehrer Wolfgang Held, gestorben 2006. Gut 80 Minuten seines 85-minütigen Films verwendet Regisseur Christoph Röhl darauf, 14 Zeugen in die Kamera sprechen zu lassen. Das ist schwer auszuhalten. Aber anders ließe sich wohl nicht glauben, dass an der Odenwaldschule jahrzehntelang Kinder und Jugendliche von denen missbraucht oder nicht gehört wurden, an die sie sich einzig wenden konnten: Lehrer und Eltern.

Schüler sprechen bei Schulleiter Becker wegen Held vor und werden lächelnd ignoriert. Eltern schicken ihre Kinder auf Ferienreise mit dem Musiklehrer, obwohl die gefleht hatten, zu Hause bleiben zu dürfen. Sich gegen die anhaltende Katastrophe zu stemmen, in die auch sie während ihrer Internatszeit gestürzt worden waren, wagten zwei ehemalige Schüler 1998.

Sie schrieben an den damaligen Schulleiter Wolfgang Harder und das 26-köpfige Kollegium. Es war nicht der erste Widerstand. Schon 1968 hatten zehn Schüler versucht, den Musiklehrer zu verklagen. Jetzt ging es gegen Becker, nicht mehr am Internat, aber angekündigt für ein Seminar. "Als ob mich der Blitz getroffen hat", beschreibt vor der Kamera einer der zwei Briefverfasser seine damalige Reaktion auf die Nachricht. In ihrem Schreiben an die Schule berichteten beide über ihren jahrelangen brutalen Missbrauch durch Becker.

Sie fordern, den pädophilen Täter auszuladen und am Internat Strukturen zu entwickeln, die Schüler schützen. "Und wir sind nicht die Einzigen", endet der Brief. Aber das Kollegium wollte es nicht wissen, "die haben uns nie was gefragt", erinnert sich im Film der Ex-Schüler. Fassungslos wenden sich die beiden an die "Frankfurter Rundschau", die 1999 den Missbrauch öffentlich macht. "Ich dachte, wir hätten einen riesen Stein ins Wasser geworfen", sagt das Opfer in der Dokumentation. "Aber es gab keine Wellen."

Die Zeugen in Röhls Film bewiesen größten Mut. Ihren Rückschauen haftet die traumatische Situation an: Ein Ehemaliger erinnert sich, seinen im Bett liegenden Lehrer beim Missbrauch eines Schülers beobachtet zu haben. "Doch ich dachte in meiner ganzen Odenwaldzeit, ich bin allein, das einzige Opfer." Und alle berichten von ihrer unendlichen Angst zu sprechen. "Wer das Schweigen bricht, ist im freien Fall."

Das Dokumentarstück erklärt nicht, warum so viele Pädagogen Schülern sexuelle Gewalt antaten. Es ergründet weniger die Ursachen, sondern zeigt mit dokumentarischer Wucht die Grausamkeit so langen Schweigens von Lehrern, Eltern und Öffentlichkeit. Röhl konzentriert sich auf die Aussagen der Opfer.