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Publikum feiert Komödie "Gretchen 89 ff." am Nordharzer Städebundtheater Vom ganz normalen Wahnsinn im Probenraum des Theaters

Von Claudia Klupsch 26.04.2010, 05:19

Lange nicht so gelacht im Theater! Bei "Gretchen 89 ff." bleibt kein Auge trocken. Die Inszenierung von Robert Klatt erlebte am vergangenen Wochenende am Nordharzer Städtebundtheater eine umjubelte Premiere. Das Stück von Lutz Hübner nimmt den Theateralltag mit seinen schrulligen Typen gehörig auf die Schippe. Theaterleute liefern den selbstironischen Blick auf die Neurosen des Theaters.

Quedlinburg. Der Titel "Gretchen 89 ff." bezieht sich auf eine Textstelle in Goethes Faust, Reclam-Ausgabe, Seite 89 ff., Auftritt Gretchen. "Es ist so schwül und dumpfig hie ...", sagt die Jungfrau, entflammt von der ersten Begegnung mit Faust. Sie entdeckt das Schmuckkästchen, das Mephisto im Schrein deponiert hat ... Das Publikum hat freien Blick in den Theater-Probenraum und erlebt nun in unterschiedlichen Varianten, was sich beim Einstudieren der berühmten "Kästchenszene" ereignen kann.

Schauspielerin und Regisseur, die zwei "natürlichen Angstgegner am Theater" (Hübner), sind aufeinander losgelassen. Die Grundsituation wird mit wechselnden Typen immer wieder durchgespielt. Macken und Marotten der Protagonisten treten zu Tage, Wortwitz und komödiantisches Spiel lassen Lacher auf Lacher folgen. Kein Klischee wird ausgelassen.

Julia Siebenschuh und Benedikt Florian Schörnig sind das kongeniale Paar auf der Bühne. Beide führen abwechselnd moderierend durch den Szenenreigen, den Schalk in Blick und Stimme. Blitzschnell schlüpfen sie sodann in ihre Rollen, erfreuen mit ihrer komödiantischen Gabe, wechseln scheinbar mühelos die Charaktere. Es macht Spaß, ihrem Spiel zuzuschauen.

Zunächst fokussiert sich der Blick auf die Regisseure. Schörnig spielt sie alle wunderbar kauzig. Maßvoll überspitzt zeigt er sie, ohne ihre wahre Existenz abwegig erscheinen zu lassen.

Da ist der "Schmerzensmann", unter Nikotinentzug leidend, mit arroganter Distanz zu Schauspielerin und Publikum. "Du brauchst dich nicht vor mir erniedrigen, bloß weil ich hier Regie führe", faucht er. "Kotz den Text dem Abo-Schwein auf die Jacke", ist ein anderer entzückender Satz. Nicht minder amüsant kommt der "alte Haudegen" daher. Er schwärmt von großen Bühnenzeiten, hinkt und verpasst sich Pillen und Augentropfen, während die arme Schauspielerin darum ringt, Gretchen zu mimen.

Ersten Szenenapplaus verschafft Typ "Tourneepferd". Hier ist es ein Mann mit Wiener Schmäh, ein alternder Gockel, der eher die junge Schauspielerin begrapschen als Szenenarbeit machen will. Köstlich: Am Ende tänzelt er mit Gretchen im Walzertakt. Noch schräger treibt es der "Freudianer" in Lederjacke, für den es in der Szene um "Sex, Sex, Sex" geht und der von Goethe behauptet, er sei "versaut bist auf die Knochen". Für ihn ist das Schmuckkästchen Phallussymbol und Gretchen soll als peitschenschwingende Domina auftreten.

Julia Siebenschuh sorgt für andauernde Heiterkeit, indem sie in der Rolle der naiven beflissenen Jungschauspielerin jeder noch so absurden Regieanweisung folgt. Urkomisch, wie sie versucht, "fleischlich" zu spielen, im Walzertakt mitzuhalten oder sich in völlig überdrehtem Spiel ständig auf die Knie fallen lässt! Der Fokus der Typenbetrachtung wechselt nach der Pause auf die Theatermacherin.

Ein Glanzlicht im Stück ist Siebenschuhs Auftritt als zickige Diva in roter Stola, die eine Tirade auf das Provinztheater ablässt. "Ich muss weg hier!", schreit sie heraus. Genau so muss sie sein, die Diva, die sich von allen verkannt fühlt! Für Lachsalven sorgt Siebenschuh auch als hyperintellektuelle Dramaturgin. Zum Piepen komisch, wenn sie mit geschürzten Lippen und wichtiger Miene ihren männlichen Gretchen-Darsteller auffordert: "Versuche mal, gar keine Figur zu spielen!"

In "Gretchen 89 ff." amüsiert sich das Publikum von Anfang an köstlich. Längst geahnt und jetzt bestätigt: Am Theater sind alle verrückt oder Theaterleute sind auch nur Menschen. Spartanisch ausgestattete Bühne, den Typen angepasste Kostüme - mehr ist in diesem Theaterkabarett nicht nötig. Das Stück lebt vom genialen Hübner-Text, an dessen Inszenierung Regie und Schauspieler vermutlich großen Spaß hatten. Wie mögen wohl die Proben gelaufen sein?