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Schauspielhaus Von der Kraft des Bürgers

Das Schauspielhaus Magdeburg eröffnete am Freitag die neue Spielzeit mit der Uraufführung „Die Stadt der Fahrraddiebe“.

Von Gisela Begrich 09.10.2016, 23:01

Magdeburg l Die fast 90-minütige Collage erzählt weniger vom massenhaften Raub von Drahteseln, sondern Geschichten von Verlusten und Gewinnen im Leben sowie von Lebensentwürfen an der Schwelle zu einer (vermutlichen) neuen Wende. So die Vision der Urheber.

Die Texte entwarfen unter der Leitung des Regisseurs Hakan Savaş Mican, der als Autor stellvertretend für alle anderen ausgewiesen ist, die Schauspieler und Dramaturgen. Das taten sie gemeinsam, indem sie nachdachten, andere Literatur befragten sowie Filme und Menschen, und dieses Konglomerat dann zu einem Ganzen montierten. Alles kommt sehr demokratisch daher. Am Ende nehmen nicht nur drei Aktricen und drei Akteure den fülligen Schlussapplaus entgegen, sondern auch Leute von hinter den Kulissen (Regie, Bühnenbild, Kostüme, Dramaturgie, Komposition/Arrangement/Chorleitung und Video).

Die Werbung für das Theaterereignis spricht von einer einmaligen Röntgenaufnahme der Seele der Stadt, in diesem Fall Magdeburg. Man muss allerdings gewillt sein, sich darauf einzulassen, weil zwischen Erwartung und Tatsächlichkeit eine Lücke klafft. Text und Inszenierung verfremden und driften erbarmungslos ab in eine Schonungslosigkeit von gestern, heute und morgen. Die Macher schlitzen eine immer komplizierter werdende Wirklichkeit an sehr beliebigen Stellen auf. Zusammenhänge laufen hier und da ins Leere und punkten, wo es mitunter überrascht.

Die Inszenierung besitzt eine hohe ästhetische Verdichtung auf allen Ebenen. Sylvia Rieger verteidigt eine radikal leere Bühne als eine beinahe verhängnisvolle Welt und schafft mit herabfallenden Tüchern dennoch eine Wärme, die man als eine Herausforderung an menschliches Handeln interpretieren kann. Die Kostüme von Miriam Marto charakterisieren die Figuren dezent und konkret.

Aber die wirkliche Ästhetik der Aufführung erwächst aus der Musikalität der Darsteller, die eine Band bilden und nicht nur Musik produzieren, sondern vor allem dem Geschehen eine subtile Klangwelt unterlegen. Quasi nebenher geschieht damit eine Hommage an die Musiker der Stadt. Denn Magdeburg – oft als ein Ort getadelt, wo Kultur und Kunst nicht so viel Heimat finden – erstaunt immer wieder mit seinen Beiträgen zur Rock- und Popmusik-Szene. Im Moment derzeit öffentlich fixiert in 30 Jahre Charlies Crew. Und auch Tokio Hotel gehört dazu, ob man will oder nicht.

Regisseur Mican führt das Ensemble zu genauen Haltungen und zu konzentrierten sprachlichen Leistungen, die freilich erforderlich sind, um die mitunter nicht immer leicht einzuordnenden Texte jeweils zu entschlüsseln. Dennoch, nicht alles, was man deutlich hören kann, ist zu verstehen. Zu begreifen ist jedoch der Appell an den Optimismus und die Kraft des einfachen Bürgers, die Schieflage der Menschheit auszubalancieren.

Pia-Micaela Barucki, Marie Ulbricht, Susi Wirth, Cornelius Gebert, Timo Hastenpflug und Amadeus Köhli musizieren nicht nur wunderbar, sie agieren auch vortrefflich. Drei Leute stellen sich gar als neu im Team des Schauspielhauses vor: Barucki, Gebert und Köhli. Premiere doppelt.

Amadeus Köhli reißt als Otto Normalverbraucher einen herrlichen Widerspruch auf zwischen Lebenshaltung und seinem afroamerikanischen Erscheinungsbild. Marie Ulbricht gibt einen Hassan, in Olvenstedt geboren (!), der beeindruckt. Im Dialog mit Pia-Micaela Barucki, als eine, die da weg will, gelingt eine Szene, die einfach brillant zu nennen ist. Ulbricht und Barucki erreichen eine spielerische Leichtigkeit, die alle Bedenken wegen des schwächelnden Inhalts wegwischt.

Susi Wirth als erschöpfte Kassandra und als Elbe, Cornelius Gebert als trauriger Entertainer und Timo Hastenpflug als Polizist prägen nicht nur im Besondern das Niveau der Band, sie loten auch die Nuancen des Textes gekonnt aus.

Dennoch erscheint das Werk eher für ein jugendliches Publikum geeignet zu sein, als dass es Besucher unterhält, die ein anspruchsvolles Schauspiel erwarten. Doch ein schöner Auftakt für die neue Spielzeit ist es allemal gewesen, sofern man nicht beim Heimgang feststellen musste: Mein Fahrrad ist weg!

Nächste Vorstellungen: 4. und 25. November, Schauspielhaus Magdeburg