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Theater "Hooh" und "Hui" aus allen Ecken

Vera Nemirovas Inszenzierung des "Fliegenden Holländers" hat Premiere am Theater Magdeburg gefeiert. Der Coup: die Chorgesänge.

Von Irene Constantin 22.01.2017, 23:01

Magdeburg l Das Großartige an dieser Inszenierung: Sie öffnet weite Deutungsräume und drängt uns doch gleichzeitig in keinen hinein. Ist der Holländer das Böse, welches seine gehirngewaschenen Anhänger wie Lemminge in den Tod laufen lässt? Ist er ein Getriebener, Heimatloser, der nichts sucht als einen sicheren Ort, eine Frau, eine Familie? Ist Senta in ihrer Verstiegenheit eine Gefahr für sich selbst, die man in eine Obhut nehmen muss? Oder ist sie ihrer spießig geisttötenden Umgebung so endlos überdrüssig, dass sie ihre Fantasie bedingungslos an die erste beste Gestalt hängt, die Bewegung, Leidenschaft, vor allem aber Ausbruch verspricht?

Was ist mit Daland, der seine Tochter zuerst gutgelaunt an den Holländer verschachert und sie zuletzt mit aller Macht von ihm fernhalten will? Wer ist Erik? Ein abgewiesener Jammerlappen, der sogar einen larmoyanten Vergewaltigungsversuch anstrengt oder der einzig Vernünftige, der warnt und zum Schluss furchtlos handelt? Die Regisseurin stellt die Figuren mit ihren Handlungen vor uns hin, erklären müssen wir sie uns selbst.

Die Inszenierung schafft ein Gesellschaftsbild, ohne ein einziges auch nur annähernd naturalistisches Detail eines norwegischen Seefahrerstädtchens zu bemühen. Tom Muschs Bühnenbild ist ein Seelenraum. Wie ein Traum kann er Bedrängnis und eisige Leere in einem sein. Einige verschobene Details deuten auf Küste und Schiff, die streng geschnittenen Kostüme in eine maritim geprägte Welt.

Die schwedische Sängerin Liine Carlsson beglaubigt ihre Senta im Spiel in der Stimme und Gestalt. Ihre Ballade, leise angesetzt mit feingesponnenen hohen Anfangstönen, ist Innenschau, Traumerzählung und eindringliche Beschwörung zugleich. Alle sollen wissen, dass sie, Senta, handeln wird, bald. Steht der Holländer dann vor ihr, blendet sie jede Wahlmöglichkeit aus, nichts als schmale, zarte Entschlossenheit, beim Duett mit dem Holländer kein Beben in der Stimme.

Dieser Holländer ist mit Vladimir Baykov, Gast von der Hamburgischen Staatsoper, nahezu ideal besetzt. Eine energisch raumgreifende, schwarze Baritonstimme, die die Weltvernichtungsfantasie seines Auftrittsmonologs zum wahrhaft gruseligen Statement macht. Baykov spielte einen Mann, der nichts und niemanden an sich heranlässt. Kein Lächeln um den geschlossenen schmalen Mund, keine Jovialität, nicht Liebe noch Verzweiflung. Die Vergeblichkeit seines Erlösungsschachers hat er von Anfang an vor Augen, entsprechend dringlich die Hoffnungsmomente.

Eine musikalische Freude einmal mehr Timothy Richards, Erik, dem klare musikalische Linien, schön geformte melodische Bögen gelangen, der, Jäger von Beruf, am Schluss den Holländer erschießt. Möge kommen, was da will.

Johannes Stermann, Daland, ein bisschen naiv, ein bisschen mehr verschlagen geldgierig, ein ordentlicher Duettpartner mit dem Holländer.

Der eigentliche Coup der Produktion war der Chor, nein, waren die Chöre. Alles, was in Magdeburg irgend singen kann, durchpflügte hier die musikalischen Meere. Dalands muntere Seemänner feuerten ihren Steuermann an, dass es eine Pracht war, Temperament, guter Klang. Wenngleich, ob man von trunkenen Seeleuten nicht die letzte Genauigkeit der kleinsten Achtelnoten verlangen sollte. Noch weniger von Untoten, von den Geistern des Holländerschiffs. Unvermittelt dröhnten sie „Hooh“ und „Hui“ aus allen Ecken des Zuschauerraums, fortissimo, atemverschlagend. Grandiose Idee.

Die Chorfrauen und -mädchen hielten sehr gut stand.

Das Orchester unter Kimbo Ishii brauchte eine Weile, um aus dem Graben und hinter ihren Notenpulten hervor auf die wilde See zu kommen. War die Ouvertüre eher brav und ordentlich, durchaus auch wohllautend musiziert, so förderte der Furor der Szene dann doch das nötige Temperament, den nötigen schwarz-romantischen brausenden Sound zutage. Stringente zwei Stunden ohne Pause. Man sollte sie erleben.