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Theater-Premiere Die das Böse schüren

Der „Wilde Osten“ hielt, was er schon bei der Eröffnung des Festivals „Ereignis Ukraine“ versprach. Nun folgte "Der Wij" ebenso erfolgreich.

Von Rolf-Dietmar Schmidt 22.05.2016, 23:01

Magdeburg l „Was ist das nur für ein Volk, die streiten, trinken, hexen ...“, so die Oma Sonka, (höchst überzeugend Thomas Schneider), zum französischen Studenten Lucas (bestens mit Alexander von Säbel besetzt), nachdem dieser von seinem Ausflug in den „wilden Osten“ gründlich genug hat und nur noch nach Hause will.

Doch er kommt nicht los von den Ereignissen, die ihn einholen, verändern, eine neue Sichtweise auf den Horizont eröffnen, hinter dem die Sonne aufgeht. In diesem kurzen Satz der Oma Sonka liegt die ganze Festivalidee, mit der Schauspieldirektorin Cornelia Crombholz als Festivalinitiatorin den Blick auf ein Land gerichtet hat, das den Westeuropäern eigentlich so nah und in Wahrheit doch so fern ist.

Gerade mal gut 1500 Kilometer trennen Magdeburg und Kiew, ein Katzensprung in heutigen Zeiten, mit historischen Bindungen, die Jahrhunderte zurückreichen – und doch scheint es ferner und fremder zu sein als alles, was wir so zu kennen glauben.

Die Autorin Natalia Vorozhbut, in der jungen Theaterszene ihres geschundenen Landes bereits ein großer Name, nutzt die Mystik von Geistern, Hexen und Gnomen der literarischen Vorlage von Gogol, um das Geschehen in die Gegenwart zu projizieren. Fast unbemerkt verschmelzen dabei historische und aktuelle Ereignisse, wie der Holodomor, eine Hungersnot, die viele Millionen Ukrainer Anfang der 1930er Jahre dahinraffte, der Krieg danach und der Krieg heute, oder die Tschernobyl-Katastrophe vor 30 Jahren, wegen der Menschen bis heute sterben.

Es ist das unbekannte Böse, das Grauen, das Angst macht und weder Gogol noch seine Smartphone-Nachfahren verlassen hat.

Damian (Konstantin Marsch) und Lucas, beide französische Studenten der Philosophie, sind zu einer Hochzeit in die finsterste Provinz der Ukraine eingeladen. Oksana (Sonka Vogt) ist die Braut.

Damian, der ukrainische Wurzeln hat, die er ergründen möchte, kennt Oksana nur als Facebook-Freundin, Lucas begleitet ihn eher aus Neugier denn aus Begeisterung. Als sie eine Bushaltestelle zu früh aussteigen, landen sie in einem Dorf, das voller Geheimnisse steckt. Hier wird exzessiv gesoffen, geliebt und getötet. In diesem Kreis aus Gewalt, Hoffnungslosigkeit, aus schwermütiger Melancholie und aggressiver Wut, lebt auch der künftige Bräutigam Kolja (unnachahmlich Raimund Widra, der leider das Ensemble verlässt).

Die junge Dsenka ist die Schlüsselfigur. Sie wird von der vermeintlichen Braut und Hexe Oksana immer wieder dazu benutzt, um in unterschiedlicher Gestalt das Böse zu schüren.

Jenny Langner spielt diese Dsenka mit einer unglaublichen Hingabe an körperlicher Präsenz und Ambivalenz der Gefühle, von tiefer Trauer bis zu unbeschwerter Heiterkeit. Eine Glanzrolle!

Regisseur Maksym Golenko hat die Schauspieler bis an die Grenzen ihrer künstlerischen Möglichkeiten geführt. Das spürt man nicht nur bei den Protagonisten, sondern auch bei den kleineren Rollen, die es dadurch so nicht gibt. Ob Susi Wirth als mittlere Oma Sonka, Philipp Quest als Roman oder Marian Kindermann als Iwan – nicht einer oder eine, ohne die diese Inszenierung diesen Erfolg gehabt hätte.

Riesenanteil daran hat auch Fedor Aleksandrowytsch (Bühne und die Kostüme). Die schwarze, auf die Zuschauer spitz zulaufende Schräge vermittelte nicht nur mystische Düsternis, sondern bot mit vielen Falltüren unendlich viele Gefahren. Darüber hinaus symbolisierte sie mit jedem unsicheren Schritt der Schauspieler die permanente Gefahr des Sturzes, der Unsicherheit, des Unerwarteten.

Der Wij, der Gnomenkönig, mit Erde bedeckt und Baumwurzeln als Arme und Beine, kommt in dieser Inszenierung nicht einmal vor. Und doch hat er eine künstlerische Brücke in ein nur wenig entferntes Land gebaut, das nun nicht mehr ganz so entlegen ist.