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Verein Zinnober Kunst kennt keine Barrieren

Künstler mit geistiger Behinderung finden im Magdeburger Kunstverein „Zinnober“ eine Plattform. Zum Jubiläum gibt es eine besondere Schau.

Von Manuela Bock 28.04.2017, 01:01

Magdeburg l Der Weg zum „Kunstverein Zinnober“ in Magdeburg führt passenderweise durch die vom Bauhaus-Stil geprägte Beimssiedlung. Durch die großen Fenster sind Menschen zu sehen, die hin- und her laufen, gestikulieren. Wer eintritt, steht direkt im Atelier, das vollgestellt ist mit Bildern. Direkt am Eingang lehnt an einer Wand ein riesiges Gemälde, das eine stilisierte Frau im Seemanns-Mantel mit einem Schiff im Hintergrund zeigt. Es ist ein Werk von Wolfram Stäps, dem Vereinsvorsitzenden, der einst Binnenschiffer war und seit nunmehr 20 Jahren den Verein auf Kunst-Kurs hält. An diesem Nachmittag hämmert er gerade einen Nagel an eine der wenigen freien Flächen des Ateliers. Der Nagel wird krumm. „Das machen wir gleich noch“, sagt er lachend und legt den Hammer beiseite.

Die Vorbereitungen laufen. Bis zum Wochenende am 6. und 7. Mai soll das Atelier vorbereitet sein für die Vernissage der Jubiläumsausstellung, die zugleich eine Retrospektive sein wird und Gästen zeigen soll, was hier im „Zinnober“-Verein entsteht. Und das ist Kunst in vielen Facetten.

Am Nagel soll ein großes Stück Holz angebracht werden, bemalt von beiden Seiten. Sonnen, Schiffe, Herzen sind auf dem „Wende“-Kunstwerk von Lothar Herwig zu sehen. Der geistig behinderte Künstler gehört zu den Urgesteinen des Vereins, hat ihn vor 20 Jahren mit Gleichgesinnten aus der Taufe gehoben. Die Idee dazu hatte Wolfram Stäps.

Der Leiter einer Schule für Kinder und Jugendliche mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung traf in seinem Berufsalltag immer wieder auf Menschen, die „ein unglaubliches Talent haben und es nicht entfalten können“, sagt er. Solchen Künstlern wollte er eine Plattform geben.

Darum gründete er mit ein paar Gleichgesinnten den Verein, den sie nach einer Figur aus einem Märchen von E.T.A. Hoffmann benannten, weil hier ein Mensch mit Behinderung eine positive Rolle spielte. Wichtig war ihnen schon damals, dass es ein Verein wird, der nicht an eine Institution angeschlossen ist. Sie wollten von Anfang an eine freie Künstlergruppe sein, die Kunst in den Mittelpunkt stellt.

Seit ein paar Jahren können die „Zinnober“-Künstler das in einem eigenen Atelier tun, das ihnen durch einen Sponsor kostenfrei überlassen wird. Vorher haben sie immer dort gearbeitet, wo gerade ein Raum übrig war, erinnert sich Stäps.

Während der Vereinsvorsitzende in die Vergangenheit abtaucht, geht Torsten Klotzsch immer wieder um den Tisch herum. Er gehört zu den neun Künstlern, die hier arbeiten. Zwölf Künstlerinnen und Künstler sind es insgesamt. „Bei uns zählen vor allem die Werke“, meint Wolfram Stäps. Die Künstler selbst machen darum nicht viele Worte. Menschen wie Torsten Klotzsch artikulieren sich anders, drücken sich nicht über Gespräche aus. Er zeigt nur auf seine Ecke im Atelier. Dort hängen Bilder in jeder Größe, die mit unterschiedlichen Techniken hergestellt worden sind.

Sie alle zeigen Gesichter mit großen Augen, verwischter Nase und angedeuteten Mündern. Torsten Klotzsch malt sie immer und immer wieder und fügt seine Initialen „TT“ dazu. Alle Gesichter sehen irgendwie gleich aus und unterscheiden sich doch im Ausdruck. Schauen grimmig, neugierig, lachend.

Mehr als 150 Gesichter, auf Leinwand, Fliesen, als Druck oder Radierung hat der Künstler geschaffen. Auf der Staffelei steht ein angefangenes Bild, das der Gesichts-Maler jetzt mit Kreide bearbeitet.

Ein paar Schritte von ihm entfernt arbeitet Lothar Herwig an der Walze, mit der er heute Linoldrucke anfertigen möchte. Aufgedruckt auf Karton entstehen Werke, die kreativ-naiv wirken. Doch gerade dieser rohe, ungeschliffene Ausdruck dieser Bilder des künstlerischen Autodidakten macht, wie bei den meisten Künstlern hier, die als „Art Brut“ oder „Outsider-Kunst“ bekannte Stilrichtung der Künstler aus. Die Sätze, die Herwig ab und an sagt, sind genauso knapp, wie die moderne Kunst, die er schafft. Er redet nicht viel, er erschafft lieber. Dazu kommt er viele Tage in der Woche hierher, streift seinen Alltag ab und wird zum Künstler.

Auf dem Tisch vor der Wand mit seinen Werken liegen viele Bilder verstreut. Viele von ihnen sollen noch für das Wochenende, an dem das Jubiläum gefeiert wird, gerahmt werden. „Es ist schwer, eine Auswahl zu treffen“, sagt Wolfram Stäps.

Der studierte Kunstpädagoge blickt voller Begeisterung auf die bunten Stapel. Darunter sind Werke von Gunnar Kretschmer, der gern auf Pergamentpapier zeichnet. Freche Motive von Frauen, die zum Teil freizügig gekleidet sind, sucht der Künstler sich meist aus. Stäps sagt: „Jeder Künstler hat seine Vorlieben und lebt sie hier aus.“ Marcel Lehmann zum Beispiel setzt die Kraft seiner Hände ein. Mit nur einer Hand formt er oft aus Tonklumpen Köpfe, die zwar nur angedeutet, aber trotzdem ausdrucksstark sind. In die Inhalte der Kunstwerke greift hier keiner ein. Nur die Techniken werden vermittelt.

Lisa Schaumburg, eine junge Frau mit einnehmendem Lächeln, lernt gerade, wie Aquarelle entstehen. Sie ist soeben aus der Werkstatt gekommen, in der sie tagsüber arbeitet, zieht ihre Jacke aus, setzt sich hin, greift zum Pinsel und tupft Farbe auf die Sonnenblume ihres Bildes. Die „Zinnober“-Künstler sind angesagt bei Kunstliebhabern. Werke wurden bereits an Verbände und Unternehmen wie Getec und die Wobau Magdeburg verkauft. Auch Galerien und Ausstellungen interessieren sich für die Kunst. Das liegt vor allem an der Wirkung, die fast alle Werke mit ihrer beeindruckenden Farb- und Formgebung entfalten. Wolfram Stäps erzählt: „Als mein 16-jähriger Sohn Arne zum ersten Mal hier Bilder und Figuren gesehen hat, sagte er: Das ist spektakuläre Kunst. Sie war anders, als er es jemals gesehen hatte.“

Ausstellende Künstler sind: Torsten Klotzsch, Lisa Schaumburg, Björn Schütze, Lothar Herwig, Marcel Lehmann, Wolfram Stäps, Hagen Liebke, Gunnar Kretschmer, Ramona Schulz, Charlotte Wittig, Peter Schröder, Theresia Sieler, Andreas Löper.

Die Vernissage beginnt am 6. und 7. Mai 2017 jeweils ab 11 Uhr. Die Ausstellung in der Großen Diesdorfer Straße 166a ist bis zum 26. Oktober zu sehen.