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Seelenverwandte Lebenslange Freundschaft ist wie ein Geschenk

Freundschaft sei eine Seele in zwei Körpern, schrieb Aristoteles. In Deutschland ist eine Herzensfreundschaft ohne Tabuthemen jedoch ein relativ junges Phänomen. Frauen haben dabei die Nase vorn.

Von Ulrike von Leszczynski, dpa 28.07.2017, 15:06

Berlin (dpa) - Manchmal fragt sich Stefanie Wally, ob sie so mutig gewesen wäre wie ihre Freundin in Ostdeutschland. Als sie Teenager waren, stand Anke Behrendt 1988 vor einer schweren Entscheidung.

Eine SED-Parteisekretärin ließ sie wissen, dass sie ihren Traumjob bekommen könne. Aber nur, wenn sie ihre Verbindung zu Freundin Stefanie in Westdeutschland abbricht. Behrendt entschied sich gegen die Ausbildung. "Wer verzichtet denn wegen einer Brieffreundin auf seine berufliche Zukunft?", sagt Stefanie Wally noch heute.

Für sie war die Entscheidung ihrer Freundin damals ein "Riesengeschenk". Die ungewöhnliche und tiefe Freundschaft ist inzwischen zu einem sehr persönlichen Stück deutsch-deutscher Geschichte geworden. Sie begann, als Stefanie 1977 auf einem Volksfest in Dossenheim nahe Heidelberg einen Luftballon mit einer Postkarte steigen ließ. Darauf stand: "Bin sechs Jahre alt und habe zur Zeit das Bein gebrochen. Würde mich freuen, wenn ich Antwort bekäme."

Der Wind trieb den gelben Ballon vor 40 Jahren über die innerdeutsche Grenze hinweg. Drei Tage später ging ihm nahe Meißen die Luft aus. Stefanie erhielt Ankes Antwort in Kinderschönschrift: "Mein Opa fand den Luftballon heute auf einem Feld bei unserem Dorf. Ich wohne in Dennschütz bei Lommatzsch. Ich bin sechs Jahre alt und gehe in die erste Klasse. Für Dein gebrochenes Bein wünsche ich Dir gute Besserung. Über einen Brief von Dir würde ich mich sehr freuen." Das war der Beginn ihrer Verbindung, von der Stefanie Wally heute sagt: "Die hält lebenslang."

Für Psychotherapeut und Buchautor Wolfgang Krüger liegen die beiden Frauen, die sich wie Schwestern fühlen, im Trend. "Wir leben in einer Blütezeit der Freundschaft", sagt er der Deutschen Presse-Agentur vor dem Internationalen Tag der Freundschaft am 30. Juli. Krüger definiert Freundschaften als Sympathiebeziehungen, in denen Menschen offen und vertrauensvoll über sich selbst reden können. Der Forscher schätzt, dass das in Deutschland erst seit rund 40 Jahren in dieser Intensität möglich ist.

"Wir leben in einer Zeit, in der wir in der Lage sind, über uns selbst nachzudenken. Das war unseren Eltern und Großeltern in den Kriegs- und Nachkriegszeiten kaum möglich, sie waren mit Überleben und Wiederaufbau beschäftigt." Auch dass die Bundesbürger heute viel offener als früher miteinander reden könnten, habe Freundschaften einen enormen Bedeutungszuwachs gebracht. Ab wann ist ein Freund ein Freund? "Wem würde ich erzählen, wie meine Mutter war, dass ich fremdgegangen bin oder wegen einer privaten Krise eine Therapie gemacht habe?", fragt Krüger zurück.

Für Stefanie Wally und Anke Behrendt gibt es keine Tabuthemen. Aus Mädchenbriefen über die Schule und Postkarten aus dem Urlaub wurde ein tagebuchartiger Austausch junger Frauen über ihren Alltag in einer westdeutschen Einfamilienhaussiedlung und dem ländlichen Ostdeutschland, über die erste Liebe - und immer häufiger auch über Politik.

Elf Jahre lang haben sich die beiden Mädchen geschrieben, bis sie sich mit 17 das erste Mal in Ostberlin treffen konnten. Das war 1988. Danach wurde die Freundschaft noch inniger. "Wir haben bald Fluchtpläne für Anke geschmiedet. Ich dachte an einen doppelten Boden im Auto bei Ferien in Ungarn", erzählt Wally. Denn Anke Behrendt hatte die Wahl zwischen Ausbildungsplatz oder Freundschaft das erste Mal in ihrem Leben in der DDR an eine harte Grenze gebracht. Sie blieb zutiefst empört.

Die Geschichte war schneller als die Freundinnen. Rund ein Jahr nach ihrem ersten Treffen fiel die Mauer. Stefanie Wally studierte Geschichte, Politik und Germanistik - im Westen. Anke Behrendt blieb im Osten und studierte in einer neuen Zeit, was ihrem Traum am nächsten kam: Betriebswirtschaft.

Auch im Zeitalter von Internet und Emails halten die Freundinnen am Briefschrieben fest - und an gegenseitigen Besuchen in Leipzig und Karlsruhe. "Jedes Jahr feiern wir den Mauerfall", sagt Stefanie Wally. 25 Jahre nach dem 9. November 1989 schrieb sie das Buch "Akte Luftballon" über die gemeinsame Geschichte. Im neuen Berliner Miniaturmuseum "LittleBigCity" gibt es zwei kleine Figuren der Mädchen mit dem Luftballon. "Im Kopf sind wir all die Jahre, in denen wir Freud und Leid miteinander teilten, einen gemeinsamen Weg gegangen", bilanziert Freundin Anke Behrendt.

Dass eine Frauenfreundschaft über Jahrzehnte hält, hat für Forscher Wolfgang Krüger nicht allein mit Glück zu tun. Frauen investierten viel in Freundschaften, Zeit und Fantasie, sagt er. "Über zwei Drittel aller Frauen haben eine intensive Freundschaft, in der sie über alles reden können." Bei Männern sei es nur ein Drittel. "Männer haben oft Kumpelbeziehungen, wo sie sich über sachliche Dinge wie Börsenkurse und Autos austauschen." Wenn Männer tiefe Freundschaften pflegten, dann meist zu Frauen.

"Wir wissen, dass innerhalb von sieben Jahren die Hälfte aller Durchschnittsfreundschaften scheitert", sagt Krüger. "Die so genannten Herzensfreundschaften aber, in denen wir uns alles erzählen, haben eine Dauer von über 30 Jahren. Sie halten oft lebenslang."

Daran hat auch Anke Behrendt keinen Zweifel. "Wir teilen das tiefe Verständnis, dass wir immer füreinander da sein werden", sagt sie. Einen Schritt haben die Freundinnen dabei noch vor sich. Anke Behrendt hat nach langem Überlegen ihre Stasi-Akte angefordert. Die Freundinnen vermuten, dass die Staatssicherheit bis 1989 ein treuer Mitleser ihrer Briefe war. Für dieses düstere Kapitel gibt es für beide nur einen Weg: Sie wollen die Akte zusammen lesen - in Berlin.