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Jugendwerkhof Die aus dem Lümmelheim

Zwischen 250 und 300 Kinder waren von 1949 bis 1989 regelmäßig im Burger Jugendwerkhof. Am Wochenende trafen sich Ehemalige.

Von Andreas Mangiras 07.06.2017, 11:00

Burg l „Wir hatten 99 Pflichten und ein Recht, das Recht, die 99 Pflichten zu erfüllen, du solltest funktionieren, und doch waren wir Kinder, auch mit 14 oder 16 noch.“ Der Leipziger Paul Kindermann, Jahrgang 1957, ist zum dritten Mal beim Treffen dabei. „Der Kameraden wegen.“ Kameraden, das Wort fällt oft, wenn er spricht. Sie haben Gemeinsames, das Gleiche erlebt und durchlebt. Sie können sich verstehen. Sie suchen Halt und sie wollen, dass die Menschen erfahren, was in Jugendwerkhöfen wie Burg und anderen Spezialheimen tatsächlich abgelaufen ist. Darum ist er hier.

Zwischen 1949 und 1989 waren im Jugendwerkhof „August Bebel“ in Burg, im Schnitt zwischen 250 und 300 Kinder und Jugendliche untergebracht. Er war der größte seiner Art in der DDR. In der späteren zweiten gab es in der Kanalstraße einen zweiten Werkhof. „,Die aus dem Lümmelheim` nannten sie uns“, sagt Paul Kindermann, Kraftfahrer von Beruf. Er lacht dabei. Es ist ein bitteres Lachen.

„Vom 28. August 1972 bis zum 27. April 1974 war ich in Burg“, schieß es aus ihm heraus. Die Daten sind eingebrannt in ihn, er ist gebrandmarkt, so fühlt er sich. Als Jugendlicher unangepasst, eckt an mit seinem Gerechtigkeitssinn „bis hin zum Exzess, bis heute“.

In Burg lernt er in der Landwirtschaft, in der LPG „Max Reimann“. „Das hat mir sogar Spaß gemacht. Im Freien, an der Luft“, blickt er zurück. Ein Lächeln spielt um Augen und Mund.

„Beschissen“ lautet dennoch sein Fazit, über die Heimzeit und die Aufarbeitung bis heute. Der DDR-Heimkinderfonds, für ähnliche Probleme in der Bundesrepublik gibt es einen eigenen Fonds, war aus seiner Sicht vielen Betroffenen gar nicht bekannt. Von 450.000 Heimkindern in der DDR haben nach seinen Informationen gerade einmal 29.000 Anträge auf eine finanzielle Unterstützung erhalten. Bescheiden wenig.

Er wirft Behörden vor, bewusst verschwiegen zu haben. Der Fonds war 2014 geschlossen worden. Kaum jemand wusste, dass es eine Nachfrist bis 30. September 2015 gegeben habe. „Als ich es erfahren habe, war es zu spät“, sagt Kindermann. Sein Antrag kam fünf Tage zu spät - und wurde abgelehnt. Doch er hat gekämpft, nicht aufgegeben, „mit Kameraden“, da ist es wieder das Wort. Und es hat geklappt. Nach einem Jahr wurde sein Antrag auf Unterstützung doch noch bewilligt.

„Der Fonds ist für uns da. Kaum einer von uns ist auf Rosen gebettet. Aber es ist keine Wiedergutmachung“, sagt er.

Wie Kindermann kann jeder der Teilnehmer seine Gesichte erzählen. Es sind wieder mehr gekommen gegenüber dem Vorjahr. Gekommen ist auch der Burger Bürgermeister Jörg Rehbaum (SPD). Zum ersten Mal ist er hier. Es ist das 11. Treffen.

„Wir sind froh, dass Sie hier sind“, begrüßte Treffen-Organisator Volkmar Jenig, Rehbaum auf Gut Lüben. Rehbaum sucht das Gespräch. Er gesteht ein, nur wenig zu wissen über die Zeit und die Menschen im Jugendwerkhof. „Ja, es ist Teil der Burger Stadtgeschichte“, sagt Rehbaum. Er spricht sich für eine umfassende Aufarbeitung aus. Seit 1913 gab es auf Gut Lüben Erziehungsanstalten, ob unter dem Kaiser, in Weimar, in der NS-Zeit, nach dem Krieg und eben in der DDR. Heute betreut hier das Corneliuswerk Kinder, Jugendliche, junge Migranten und junge Mütter, alle ebenfalls aus schwierigen Lagen hergekommen. Rehbaum ist für ein differenziertes und öffentliches Aufarbeiten. Zu NS-Zeiten gab es hier sogar Zwangssterilisationen. Ab 1939 gingen von Gut Lüben viele erwachsen gewordene Heimkinder direkt an die Front. Rehbaum ist für einen Erinnerungsort. Wie das aussehen soll, müssen Gespräche bringen. Die gibt es bereits. Der Stadtrat soll einbezogen sein.

Jenig, der das Treffen zum dritten Mal in Folge vorbereitet hat, macht das Anliegen deutlich: „Wir waren wertlose Menschen hier, wir wollen die Blickrichtung auf diese Zeit verändern. Wir dienten der Wirtschaft als billige Arbeitskräfte. Mit schlechter Schul- und Berufsausbildung zu Teilfacharbeitern hatten wir keine oder kaum Perspektiven in unserem weiteren Leben.“

Jenig war von 1968 bis 1970 im Jugendwerkhof „August Bebel“ in Burg. Er war früh seinem komplizierten Elternhaus entrissen worden. 11 Kinder, der Vater trank und war ein Schläger. Er durchlief zahlreiche Heimstationen, türmte, wollte nach Hause, wurde wieder eingefangen, kam ins nächste Heim.

Aus seiner Akte geht hervor, erzählt er, dass schon vor seiner Geburt von Amts wegen entschieden war, dass der Mutter die Kinder entzogen werden würden. Unter dem Titel „muss ich verzeihen? - verstoßen - gedemütigt - misshandelt“ hat er jetzt seine Erinnerungen veröffentlicht. Allein 70 Seiten handeln von der Burger Zeit. Bestellt werden kann das Buch unter muss-ich-verzeihen@t-online.de.

Am 16. Juni soll um 14 Uhr auf Gut Lüben eine Tafel enthüllt werden, die an die Geschichte von Gut Lüben seit 1913 erinnert. Darüber informierte Frank Garnich, der pädagogische Leiter des Corneliuswerkes. Er begleitet seit Jahren die Ehemaligen-Treffen.