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Erinnerungen 350 Liebesbriefe voller Hingabe

Marion Sandkuhl aus Gerwisch hat von ihrem im Vorjahr verstorbenen Ernst mehr als 350 Liebesbriefe in vier Jahren bekommen.

Von Thomas Rauwald 18.02.2017, 05:07

Gerwisch l Marion Sandkuhl holt die mit roten Schmuckbändern zusammengehaltenen Briefe von der Anrichte auf den Tisch. „Hier liegt mein Leben, jedenfalls ein wichtiger Abschnitt davon, hier liegt die Gemeinsamkeit mit meinem Ernst. Eigentlich liegt hier unser beider Leben“, sagt sie tief Luft holend. Ernst Sandkuhl hat vor rund einem Jahr diese Erde verlasen. Nach langer, schwerer Krankheit. Sie hat ihn jahrelang zu Hause gepflegt. Bis es nicht mehr ging. Bis es auch über ihre Kräfte ging. Geblieben ist neben der Trauer die Erinnerung an schöne, gute Zeiten. Sie weiß noch ganz genau, wie alles begann.

Am 25. März 1962 feiert sie mit Freundinnen in der Gerwischer Raststätte ihren 19. Geburtstag. Immer ist es Ernst Sandkuhl – man kennt sich schon aus den Kindertagen – der sie zum Tanzen holt. Zu später Stunde fragt sie ihn nach der Uhrzeit. „Da zog er sein linkes Hosenbein etwas hoch. Seine Uhr trug er mit einem schwarzen Armband unten am Bein“, erklärt sie. Um die Manschetten seines weißen Nyltesthemdes aus dem Westen zu schonen, fügt sie an. Das müsse den alles entscheidenden Ausschlag gegeben haben. „Mensch, das ist ja ein witziger Kerl.“ Ernst hat sie nach Hause gebracht und sie erzählte ihm, dass sie zu Wochenbeginn wieder nach Schkopau fahren müsse. Dort machte sie in den Buna-Werken ein „Bewährungs“-Praktikum, um einen Studienplatz für Slawistik zu bekommen.

Marion kramt in den Briefen herum. Sucht nach einem ganz speziellen. „Das ist der erste. Den habe ich drei Tage nach unserem Kennenlernen bekommen“, sagt sie, und beginnt vorzulesen: Nun bist du abgefahren, ohne dass ich dich noch einmal gesehen habe. Ich bin doch noch ein kleiner Dummer. In deiner Gegenwart bin ich so glücklich, dass ich sogar den andern Tag vergessen habe. Das soll keine Entschuldigung sein, aber ich werde bestimmt alles wieder gutmachen, liebe Marion. Sei mir deshalb bitte nicht böse. Warum musste gerade jetzt mein Sommersemester beginnen. Bei deiner Freundin in Magdeburg wirst du dich bestimmt noch einmal richtig ausgelacht haben. Auch über Walter und mich.

Die Vorleserin nimmt einen weiteren Brief in die Hand: Liebe Marion, hoffentlich wird dich mein Brief nicht allzusehr langweilen. Ich schreibe nämlich sonst sehr wenig Briefe. Aber an dich, Marion, möchte ich fast jeden Tag einen Brief schreiben, weil ich Angst habe, dass du mich vergessen könntest...Ich glaube, dass ich nun genug gekritzelt habe. Mach‘s gut meine liebe kleine Marion.

„Als ich diesen Brief meiner Schwiegertochter zeigte, sagte sie ungläubig, was, solche Briefe hat mein Vater geschrieben?“, berichtet Marion Sandkuhl.

Briefe dieser Art kreuzen in den nächsten vier Jahren quer durch die DDR. Ernst Sandkuhl studiert an der Technischen Hochschule Magdeburg Wärmetechnik. Nach dem Bewährungsjahr mit Zwölftstunden-Schichten ergattert Marion Sandkuhl einen Studienplatz in Erfurt. Wird Lehrerin für Deutsch und Russisch. Die Briefe gehen zwischen den Städten hin und her. Dann sind die Studenten wegen Praktika und Ernteeinsätzen wieder an anderen Orten. Den Kontakt halten sie mit blauer Tinte auf gelbem Papier. Aus dem ersten Kennenlernen ist längst Liebe geworden. In Gewisch findet man sich, wenn es klappte, an Wochenenden zusammen. Dann muss jeder wieder seiner Wege gehen. Die Post hat Hochkonjungtur. Der letzte Brief zwischen den Studierenden erreicht Marion Sandkuhl im Juli 1966. Vorerst.

Denn in den 80er Jahren hat es wieder eine längere Trennung gegeben. Die Russischlehrerin darf an einer achtwöchigen Auszeichnungs- und Weiterbildungsreise in die Sowjetunion teilnehmen. Erst ist die 60-köpfige Gruppe mit Lehrern aus der ganzen Repu- blik im Puschkin-Institut, dann geht es aber gleich weiter ins entfernte Belgorod. Auch aus dieser Zeit gibt es noch einige Briefe. Marion Sandkuhl nimmt einen zur Hand: Die letzten Tage des Wartens auf Post von dir waren für mich schrecklich. Ich fragte mich immer wieder, was hast du nur falsch gemacht? Aber nun ist alles vorbei. Gott sei Dank. Ich kann wieder ruhig schlafen... Marion, ich liebe dich sehr. Man merkt es immer erst deutlich, wenn man alleine ist... Viele liebe Grüße, dein dich liebender Mann. Marion Sandkuhl legt das Papier auf den Tisch zurück. „Wir waren damals 19 Jahre verheiratet“, rechnet sie schnell zurück.

Die Briefe geraten dann in Vergessenheit. Auf dem Boden steht ein Schrank und darin ist ein Karton, daran konnte sich Mariona Sandkuhl noch erinnern. Doch was er verbarg, wusste sie nicht mehr. Nach dem Tod ihres Mannes wird der Karton ans Tageslicht geholt. Sie sortiert die Biefe, zählt und liest sie. Tränen rinnen ihr übers Gesicht. „Meine Schwiegertochter wird die Briefe binden“, sagt Marion Sandkuhl. „Sie sind mein Leben und sie sollen weitergereicht werden.“