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Jugendwerkhof Eine Burgerin entschuldigt sich

Ehemalige Jugendwerkhöfler aus Burg haben oft schwer an der damaligen Zeit zu tragen. So mancher will das nicht einfach hinnehmen.

Von Andreas Mangiras 19.06.2016, 07:00

Burg l „Ilona war Mitglied einer Gruppe von Jugendlichen, deren Weltauffassung darauf gerichtet war, der sozialistischen Gesellschaft zu schaden.“ Dieser Satz ist eingebrannt in Ilona Wölks Gedächtnis. Wie ein Brandmal. Das Jugendamt Treptow hatte ihn über sie formuliert. Er war politisch gemeint. Das hatte gravierende Folgen.

Die Berlinerin war 1971 bis 1972 für 16 Monate in den Jugendwerkhof Burg gesteckt worden. Zur Besserung.

„Wir waren eine ganz normale Jugendclique. Für die Obrigkeit hörten wir die falschen Musiksender“, widerspricht Ilona Wölk. Die Gruppe wurde aufgelöst. Alle kamen in den Werkhof, erinnert sie sich.

Dort begann die „Umerziehung zu richtigen Menschen“. „Waren wir vorher Tiere?“ Ilona Wölk leidet noch heute darunter. „Wir waren doch keine Kriminellen, wie es etliche heute noch von uns denken.“

Sie braucht offene Türen, weil sie der Zellenverschluss immer noch quält. Die Farbe Blau ist ihr ein Grauen, Transparente in dieser Farbe, FDJ-Blauhemden erinnern sie an die Werkhofzeit. Lautes Telefonklingeln lässt sie erschrecken. Das Zähneziehen ohne Narkose, wie sie es damals erfuhren, bereitet ihr noch heute phantomhaft Schmerzen. Wer nicht mitzog, wurde der Gruppe ausgesetzt, weil für das Versagen des Einzelnen die gesamte Gruppe bestraft wurde: Selbsterziehung im Kollektiv.

Die Arbeit, zu denen die Jugendlichen in Burger Betrieben geschickt wurden, habe ihr Spaß gemacht. „Die Kontakte zu den Arbeitern waren sehr gut.“ Vom verdienten Geld, 113 Mark im Monat, wurde etliches abgezogen - für Ausgaben im Werkhof.

Um politisch wahrgenommen zu werden, hält Roland Neumann, Vorsitzender des Vereins „Kindergefängnis Bad Freienwalde“ im Brandenburgischen die Gründung eines Ehemaligen-Vereins für den Jugendwerkhof Burg für wichtig. „Ich habe 2006 ganz allein angefangen“, berichtet Neumann. Nach und nach sei eine Gruppe Engagierter entstanden. Heute gehören 21 Mitglieder zum Verein. „Wir werden von der Politik ernst genommen“, sagt Neumann. „Wir streben eine Verlängerung des Heimkinderfonds an.“

Um den Heimkinderfonds, der im vorigen Jahr nach einer letzten Übergangsfrist auslief, gab und gibt es Streit. Viele Ehemalige hätten nichts davon gewusst, ist eine immer wieder erneuerte Kritik aus Ehemaligen-Kreisen. Sie würden jetzt leer ausgehen. Viel Verbitterung ist dabei und Misstrauen gegenüber staatlichen Stellen.

Marina Ahne von der Vereinigung der Opfer des Stalinismus in Sachsen-Anhalt aus Magdeburg kann das sehr gut nachvollziehen. Nur wenige Betroffene würden sich melden. „Es kommt nur ein Bruchteil der Ehemaligen in die Beratungen.“ Sie hätten das Gefühl, niemand wolle wissen, wie es ihnen tatsächlich geht.

Viele Ehemalige hätten das Gefühl, sich aus Schuldkomplexen rechtfertigen zu müssen. Es fehle ihnen sehr oft Selbstbewusstsein. In den Jugendwerkhöfen wie Burg hätte das Kollektiv im Vordergrund gestanden, nicht das Individuum. Dennoch sei es für viele Ehemalige sehr wichtig, dass man ihnen ,,auch gute Erinnerungen an jene Zeit lässt, sonst brechen sie zusammen“.

Dass Ehemalige oft kein Vertrauen in staatliche und öffentliche Stellen hätten, hängt aus Ahnes Sicht zum einen mit ihrer Vergangenheit zusammen. Zum anderen sieht sie in der Umsetzung von Entschädigungsregelungen „ein Spiel auf Zeit“. Das Problem werde von der Politik vor sich hergeschoben. „Nachdem nach der Wende die politischen Gefangenen im Mittelpunkt gestanden haben, muss es jetzt endlich um die Heimkinder gehen“, sagt sie.

Ein großes Problem stelle dar, wie nach all den Jahren Nachfolgeschäden, die aus den Jugendwerkhof-Strafen entstanden sein könnten, ermittelt würden. Die Vereinigung der Opfer des Stalinismus in Sachsen-Anhalt will, so Marina Ahne, Weiterbildungen für Mitarbeiter von Behörden entwickeln, die sich mit der Begutachtung dieser Nachfolgeschäden befassen.

Erstmals waren zu einem Ehemaligen-Treffen auch frühere Erzieherinnen gekommen. Volkmar Jenig macht das ein Stück froh. „Wir wollen ins Gespräch kommen.“

Eine besondere Begegnung hatten Jenig und einige Treffen-Teilnehmer in Burg. Eine Burgerin traf sie beim Mittagessen. Sie hatte zu DDR-Zeiten in der Schuhfabrik „Roter Stern“ gearbeitet und dort mit Jugendwerkhöflern zu tun gehabt. „Verzeihen Sie“, bat sie um Entschuldigung. „Mir lief und läuft immer noch ein Schauer über den Rücken“, gab Jenig wenig später diese Begegnung wieder. Sie hatte kleine Geschenke dabei – als kleine Wiedergutmachung. „Eine Antwort, die mir die Sprache verschlug, für was wollte sich die Frau entschuldigen?“, erklärt Jenig sichtlich bewegt.

Jenigs Töchter Corinna (18) und Cindy (17) waren zum zweiten Mal mit zu dem Treffen gekommen. Sie interessiert das Schicksal ihres Vaters und der anderen Ehemaligen. „Jeder, der hier war, ist davon schwer geprägt - bis heute“, sagt Cindy. „Unser Vater und die anderen tun mir leid“, sagt Corinna. Die Verhältnisse seien ein Schock für sie gewesen. „Für uns ist es so normal, dass wir unsere Meinung sagen können. Wer es damals tat und kontra war, landete hier im Jugendwerkhof.“

Ilona Wölk hat später versucht, ihren Weg zu gehen. Sie lernte Spediteurin, war später Reisekauffrau, arbeitet jetzt im medizinischen Bereich. Sie hat mit Mann Bernd ihr zweites Glück gefunden. Und sie engagiert sich, kommt regelmäßig zu den Treffen nach Burg. Über den Heimkinderfonds hat Ilona Wölk eine Entschädigung erhalten. Doch der Satz des Jugendamtes Berlin-Treptow, der sie als vermeintlich Politische in den Jugendwerkhof brachte, raubt ihr immer noch die Ruhe.

Woher sie den Satz kennt? Der amtliche Bescheid über ihre Einweisung in den Jugendwerkhof mit diesem Satz befand sich auch in den Unterlagen ihrer Mutter. Nach deren Tod Mitte der 90er Jahre ging er verloren.

Ilona Wölk hatte erst danach so richtig begonnen mit der Aufarbeitung ihres Jugendwerkhof-Lebens. „Ich will politisch rehabilitiert werden. Doch meine Unterlagen, die beim Jugendamt Treptow sein müssen, gibt es dort nicht.“ Ein Teufelskreis.