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Genthin Der Onkel als Pfarrer und Häftling

Einen Vortrag zum Thema "Kirche im Nationalsozialismus" hielt vor Kurzem Axel Neubauer in Genthin.

Von Kristin Schulze 06.10.2016, 01:01

Genthin l „Die Judenverfolgung war das größte Verbrechen der Nazis, aber nicht das einzige“, sagt Axel Neubauer. Der 80-Jährige referierte vor Kurzem in Genthin über ein weiteres Verbrechen der Nationalsozialisten. In seinem Vortrag „Kirche im Nationalsozialismus“ geht es um die Verfolgung der Geistlichen.

Neubauer wurde 1936 in Stendal geboren, zog 1939 mit Eltern und Bruder nach Genthin. Über der Gaststätte Borstel bewohnte die Familie bis 1946 eine hübsche Wohnung. Heute findet man dort die Pension „Goldener Anker“.

70 Jahre später ist Neubauer an diesen Ort zurückgekehrt. Die Küche von einst ist heute gemütliches Einzelzimmer und doch der selbe Raum, in dem am 8. Mai 1945 eine Granate einschlug und explodierte, während die Familie Neubauer im Luftschutzkeller saß.

Die Besucher der Jungen Kirche nimmt Neubauer während seines Vortrags noch einmal mit in diese Zeit. Das Thema „Kirche im Nationalsozialismus“ lag in der Familie, denn sein Onkel Fritz Hoffmann (1906-1975) arbeitete zur NS-Zeit als Pfarrer. „Die Zeiten sind vergessen. Doch wir sollten sie nie vergessen“, sagt Neubauer und leistet mit seiner Recherche einen Beitrag gegen das Vergessen.

Doch was hatte Hitler eigentlich gegen die Geistlichen? Das ist historisch nicht eindeutig belegt, fest steht, er mochte sie nicht. Im Buch „Hitlers Tischgespräche“ von Henry Picker ist die Rede vom „Volksschaden durch die Pfaffen“. Dort wolle er „ohne langes Federlesen aufräumen“. Auch in „Mein Kampf“ forderte Hitler die „Ausrottung der Pfaffen“.

Fritz Hoffmann, der Onkel von Alex Neubauer, arbeitet in der evangelischen Kirche Wegenstedt, als die Nazis 1933 die Macht übernehmen. Mit dem Regime kann er nichts anfangen, er macht sich schnell Feinde. Aus banalen Gründen, zum Beispiel weil er nicht sagen will „Segne unseren Führer“ oder „Wir danken dir, dass du unserem Volk den Führer geschenkt hast“.

Auch dass er sich für den Konfirmandenunterricht stark macht, ist nicht gerne gesehen. Zu dem kamen die aufgehetzten Kinder erst gar nicht. Oder die Unterrichtseinheiten wurden durch laute NS-Gesänge gestört oder kurzfristig ganz abgesagt. Hoffmann wollte das nicht hinnehmen, wehrte sich.

So steht es in seiner Akte, die Axel Neubauer für seine Recherchen nutzte.

Dort findet sich auch das Ereignis, das den Ausschlag für den Bruch mit dem Regime gab: In der Zeitung hatte eine Notiz gestanden. Inhalt: „Kein Gottesdienst an Himmelfahrt“. Fritz Hoffmann veranlasste eine Gegendarstellung. An Himmelfahrt wurde immer gepredigt, so sollte es auch 1941 sein.

Das brachte ihm eine Rüge vor dem Gericht in Gardelegen und sechs Monate im Konzentrationslager Dachau ein. Bis zu 30 Blocks waren dort den Geistlichen vorbehalten.

Später berichtete er von seinem ersten Tag dort, von der Glatze, die allen Gefangenen geschoren wurde, vom Brausebad, in dem sie kalt geduscht wurden und von der Strafkleidung, die sie fortan tragen mussten.

Axel Neubauers Vortrag lebt besonders von den heute unvorstellbaren Details. So zitiert er seinen Onkel: „Die Haare haben sie mit so stumpfen Maschinen geschoren, dass es eher ein Rupfen war. Das hat richtig weh getan.“

Die Zuhörer erfahren auch, dass die Geistlichen wegen eines Abkommens der Nazis mit dem Vatikan (Reichskonkordat) eine Sonderstellung im Konzentrationslager inne hatten. So bekamen sie Zugang zu einer Kapelle und nebenbei hatte der Vatikan Wein und Kakao ausgehandelt. Neubauers Onkel berichtete später, dass der Wein eiskalt und auf ex getrunken werden musste. Was vom Vatikan als Annehmlichkeit für die Gefangenen geplant war, mündete so in Magenschmerzen. Von schwerer Arbeit waren die Geistlichen auf Intervention des Vatikans ausgenommen.

Ihren Dienst verrichteten sie zum Beispiel in der Kleiderkammer. Von der menschenverachtenden Ideologie der Nazis bekam man auch hier genug mit. So kam die Kleidung zunächst mit Einschusslöchern und voller Blut, später wurde sie nahezu sauber geliefert. Axel Neubauer erklärt, warum: „Man ging dazu über, die Gefangenen nackt zu erschießen, um ihre Kleidung danach besser nutzen zu können.“

Neubauer zeigt auch Fotos von auf dem Bock festgeschnallten Gefangenen. „Mein Onkel berichtete von Stockschlägen, bei denen man laut mitzählen musste.“

„Unvorstellbar, was Menschen mit anderen Menschen machen können“, sagt Neubauer, der auch zu den Genthiner Kirchen recherchiert hat. So berichtet er beispielsweise davon, wie ein SA-Trupp die Altenplathower Kirche stürmte, um den Pfarrer Menzel zu verhaften. „Mitgenommen hat man ihn nicht. Warum, weiß kein Mensch.“

Neubauer selbst war ein Jahr in der Hitlerjugend. „Für uns war das interessant. Mit neun Jahren kannst du nicht absehen, was Hitler will.“

Auch den Treck von verwahrlosten Frauen, den er als Kind in der Mühlenstraße beobachtet, kann er lange nicht einordnen. „Erst später habe ich verstanden, dass die Frauen aus dem Konzentrationslager Ravensbrück zum Genthiner Bahnhof gebracht wurden und von dort aus in die Außenstelle nach Genthin laufen mussten.“ Er werde aber nie vergessen, wie hoffnungslos die Gefangenen ausgesehen hätten. „Es klingt grauenhaft. Es war grauenhaft“, ist eine Satzfolge, die sich wie ein roter Faden durch Neubauers Vortrag zieht.

Sein Onkel Fritz Hoffmann wurde nach sechs Monaten aus dem KZ entlassen. Allein in dieser Zeit kamen dort 65 Geistliche um. Insgesamt waren 2720 Geistliche in Dachau gefangen. 1034 von ihnen haben das Naziregime nicht überlebt.

Aus der schönen Wohnung über der Gaststätte Borstel mussten die Neubauers 1946 ausziehen. „Für die Alliierten waren wir Nazis“, erklärt Axel Neubauer den Umzug nach Altenplathow. 1950 wurde er in Altenplathow konfirmiert, seine kaufmännische Lehre absolvierte er in Schönhausen. 1954 ging er in den Westen, heute lebt er im Rheinland. Die Verbundenheit zu Genthin ist geblieben. 2000 feierte er in der Altenplathower Kirche die Goldene, 2015 die Eiserne Konfirmation.